Donnerstag, 7. Mai 2009

Johannes Hirschberger

Johannes Hirschberger                                                                  Herder / Spektrum 1992

 

 

Die Sophistik

 

Die Sophisten bieten allerdings sogleich auch wieder den Beleg dafür, wie gefährlich das Instrument des menschlichen Geistes sein kann. Der menschliche Geist vermag nämlich vieles, was sich als glänzende Tugend geben dabei aber glänzendes Laster sein kann. Das zu durchschauen, erfordert selbst wieder nicht bloß Geist, Sondern Reife des Geistes.

Die Sophistik entsteht zu einer Zeit, in der Griechenland sich anschickt, Großmachtpolitik zu treiben. Zu so etwas braucht man Könner. Die Sophisten boten sich an, solche Könner auszubilden.

Sie versprachen die Aretè zu lehren. Übersetzt man diesen Ausdruck wörtlich mit Tugend und versteht Tugend im herkömmlichen Sinn, dann kommt genau das Gegenteil von dem heraus, was gemeint war.

Aretè heißt nämlich im Munde der Sophisten nur Tüchtigkeit. Und diese Tüchtigkeit war nicht wählerisch. Es war eine Tüchtigkeit, die zu allem fähig war (panurgia), wie Platon treffend dafür gesagt hat. Hauptsache war den Sophisten dabei die Rhetorik, die Kunst, sprechen schreiben und auftreten zu können. Das gerade braucht ja der politische Führer. Und da hatten sie nun gefährliche Grundsätze. Man müsse verstehen, etwas zu werden, der Erste zu sein, Macht zu erwerben und zu behalten, sich durchzusetzen, das Leben zu meistern und es zu genießen. Dafür war dann alles recht — und daher ihr Grundsatz, der tüchtige Redner müsse fähig sein, die schlechtere Sache zur stärkeren zu machen, nicht durch die Erhellung der Wahrheit, sondern einfach durch Überredung. Daher Platons ständiger Tadel: Euch geht es überhaupt nicht um die Sache oder um die Wahrheit oder um das Recht, euch geht es nur um die Macht, und im Grunde seid ihr ohne jede Einsicht in die Wahrheit und die Werte des Menschen — und darum seid ihr nicht Führer, sondern Verführer.

Dafür besaßen die Sophisten auch die entsprechende Weltanschauung, einen allgemeinen Relativismus: Es gibt keine Wahrheit und gäbe es eine, dann könnte man sie nicht erkennen, und konnte man sie erkennen, wäre sie nicht mitteilbar, wie Gorgias (483—375) zu sagen pflegte. Oder wie einer ihrer bekanntesten meinte, Protagoras (ca. 481—411), alles sei relativ, subjektiv, je nach dem Dafür halten des einzelnen: „Wie etwas mir erscheint, ist es für mich, wie dir, so ist es für dich." Darum steht nichts mehr dem Menschen gegenüber weder objektive Sachverhalte noch ein ewiges Recht, noch ewige Götter, sondern „der Mensch ist das Maß aller Dinge" (Protagoras). Die Sophisten bemühten sich, auf alle Weise zu zeigen, wie relativ die Satzungen des Rechtes, der Sittlichkeit oder der Religion seien. Nichts sei hier „von Natur", d.h. ewig gültig, sondern alles sei nur durch menschliche „Satzung" und Übereinkunft so geworden. Und auch für ihre Machtideologie suchten sie nach einem philosophischen Mäntelchen. Es sei das Gesetz der Natur, so meinten sie, daß der Stärkere über den Schwachen herrsche. Das war hier das „Naturrecht". Bei Nietzsche und Hobbes wird es später wieder aufleben. Und auch im Soziologismus der Gegenwart, in dem die Soziologie als Wissenschaft zur Ideologie entartet ist, erlebt die Sophistik eine Wiederkehr: hier wie dort gibt es keine bleibenden Wahrheiten und Werte, sondern man orientiert sich an dem bloß Faktischen, das Zeitgeist, Willkür, Macht und Geschichte uns zuspielen, und rechtfertigt es dann, genauer propagiert es, durch eine journalistische Dialektik, die das kritische Denken verdirbt bis hinein in Pädagogik, Justiz und Politik, was ja immer schon der Tummelplatz der Sophisten gewesen war.

Daß die vielberedete Relativität nicht die sittlichen Werte selbst betraf, sondern nur das menschliche Bewusstsein von diesen Werten, nicht die objektive Geltung, sondern nur die geschichtliche Ausdrucksform, diese tiefere Einsicht war ihnen nicht aufgegangen Und auch nicht die andere Unterscheidung daß ihr „natürliches Recht"

nur natürliche Begehrlichkeit ist, wie Thomas Hobbes dieselbe Sache sehr viel später richtig nennen wird. Aber es hat einen Mann gegeben der ihnen ihre Wertblindheit genau vorrechnete, Platon.

Alle seine Jugendschriften sind gegen die Sophisten gerichtet. Das witzigste Argument dabei war sein Wort vom Lügner und vom Dieb. Platon sagte nämlich, man müsse den Grundsatz, daß es nur auf das Können allein und als solches ankomme, einmal richtig durchdenken. Wenn es wirklich so ist, dann ist der Lügner „besser", weil „tüchtiger" als der, der die Wahrheit spricht denn er überrundet ihn ja; und ebenso ist dann der Dieb „besser" als der Wächter, denn er „kann" ja noch mehr, weil er ihn überlistet. Mit dem Können allein ist es also nicht getan.

Aber das wird oft nicht recht durchschaut. Die Kunst des schönen Sprechens und Schreibens, also das humanistische Ideal der nur formalen Bildung, wird immer Gefallen finden. Auch da kann Sophistik noch am Werke sein. Für diese Leute hat Platon umsonst geschrieben, soviel Kluges sie auch über ihn zu sagen wissen. Sie sind daher in seinen Augen nur Liebhaber des Wortes (philologoi), aber nicht des Gedankens und seiner Weisheit (philosophoi) weil die Reife des Geistes fehlt, sein Wahrheitsbewußtsein und das Wertgefühl der sittlichen Vernunft. Es gibt eine ewige Sophistik die immer den Schein mehr heben wird als das Sein. Alle Leistung wird immer blenden. Wenn man aber das Können des Menschen, sei es nun Wissen oder Willensmacht, nicht unter sittliche Wertprinzipien stellt und davon leiten lässt, dann hat das seine Konsequenzen. In einer die an Leistung und Macht allein orientiert ist, wird der Egoismus zur Notwendigkeit werden. Man kann ihn dann maskieren, kann die Lüge Propaganda heißen und den Diebstahl Gemeinwohl aber bei der Tatsache der bloßen Macht wird es bleiben. Wer ihre Vorteile genießen will, wird dann auf immer abhängen von der höchstmöglichen Raffinesse jener routinierten Könner, die zu allem fähig sind.

 

 

Der Staat

 

Platon hat unter diesem Gesichtspunkt seine Staatsformen gefunden. Wenn ein Staat von den geistig und sittlich Besten geleitet wird, dann handelt es sich um eine Aristokratie; ist der Leiter nur einer von diesen Besten, dann um eine Monarchie. Herrschen nicht mehr die wirklich Besten, sondern die Ehrsüchtigen, die sich für wertvoll halten, weil sie Mut und Entschlossenheit haben, gute Jäger, Sportler und Soldaten sind, tatkräftige Praktiker, schlaue Taktiker und findige Karrieremacher, dann handelt es sich um eine Timokratie.

Diese Männer haben schon wieder Privateigentum und bereichern sich insgeheim. Sie dienen weniger dem Ganzen und der Sache als ihrem subjektiven Geltungstrieb. Greift das Sich-Bereichern noch mehr um sich und herrscht nur noch eine Gruppe von einigen Reichen, die nichts anderes im Auge haben als materielle Wirtschaftsmacht und eigenen Vorteil, immer bereit, diesen Dingen die höheren menschlichen 'Werte unterzuordnen, dann haben wir eine Oligarchie vor uns. Von den drei Seelenteilen Vernunft (Aristokratie), Mut (Timokratie) hat jetzt der dritte, die BegierdeseeIe sich in den Vordergrund gespielt. Beherrscht er aber überhaupt das Feld, so daß jeder Staatsbürger „weder Ordnung noch Pflichtenzwang kennt,

sondern nach Lust und Laune in den Tag hinein lebt und das ein

liebliches, freies und seliges Leben heißt" (Staat 561), so haben wir

es mit der Demokratie zu tun. Das Maß der mehr oder weniger großen Annäherung an das ideal von Ordnung und Recht ging hier, so meint Platon, gänzlich verloren, weil man überhaupt nicht mehr an Wahrheit und Recht an sich glaubt sondern nur sein subjektives Begehren kennt, mit dem man dann alles Weitere der gesellschaftlichen Verhältnisse aushandelt. Deswegen sind jetzt auch alle gleich.

Allem Anschein nach eine reizende Staatsverfassung, herrschaftslos,

buntscheckig, so etwas wie Gleichheit gleichmäßig, an Gleiche und

Ungleiche verteilend (Staat 558). Die äußerste Entartung aber besteht in der Tyrannis. Wenn die Freiheit zur totalen Zügellosigkeit geworden ist, schlägt sie in ihr Gegenteil um. „Das Übermaß im Vorwärtstreiben der Dinge pflegt den Umschlag ins Gegenteil als Rückschlag zur Folge zu haben, in der Witterung, im Wachstum

der Pflanzen und Leiber und nicht zum wenigsten auch in den Verfassungen." In den inneren Auseinandersetzungen des allgemeinen Mehrhaben-Wollens braucht das Volk Führer. Und weil es die Gewohnheit hat, „immer einen im Vorzug vor den anderen an die Spitze zu stellen und ihn zu hätscheln und allrnächtig zu machen",

kann es dazu kommen, daß ein solcher Volksführer, wenn er einmal das Blut des Machtbesitzes geleckt hat, dem Macht- und Größenwahn verfällt und nun alles tut, an der Macht bleiben zu können.

Er wird alles Recht aufheben, das Volk seinen Knechten, wird diese Knechte anderen Knechten ausliefern, bis „endlich das Volk erkennt, welchen Unhold es sich erzeugt und großgezogen hat". Und jetzt sieht man, was Tyrannei ist: Sklaverei unter Sklaven. Nicht nur das Volk ist Sklave, auch seine Zwingherrn sind es und schließlich der Tyrann selbst. Er ist Sklave seiner eigenen Leidenschaften, für den Philosophen eines auf Vernunft und Wahrheit, Freiheit und sittlichem Wollen beruhenden Menschentums verkörpert er die Staatsform der äußersten Greuel.

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