Samstag, 16. Mai 2009

Xenophon's Erinnerungen an Sokrates

Erstes Buch.
1. Kapitel.
Vertheidigung des Sokrates gegen die Beschuldigung, daß er nicht die Götter des athenischen Staates verehrt und neue Gottheiten eingeführt habe.
 
1. Oft habe ich mich darüber gewundert, durch welche Gründe in aller Welt die Ankläger des Sokrates den Athenern überzeugend nachgewiesen haben mögen, daß er den Tod um den Staat verdient habe. Die gegen ihn erhobene öffentliche Klage lautete nämlich ungefähr so:
Sokrates thut Unrecht, einmal dadurch, daß er die Götter nicht anerkennt, welche der Staat anerkennt und andere fremde Gottheiten einführt, sodann aber auch dadurch, daß er die Jugend verführt.
 
2. Was nun das Erste anlangt, daß er die Götter nicht anerkenne, welche der Staat anerkennt, was für einen Beweis in aller Welt mögen sie da vorgebracht haben? Bekanntlich opferte er oft zu Hause, D. h. in einem das Haus umgebenden und von einer Mauer eingeschlossenen freien Platze, in dessen Mitte der Hauptaltar des Ζευσ Ερχειοσ Greek stand. oft auch auf den öffentlichen Altären der Stadt; Diese befanden sich unter freiem Himmel; auch die Tempelaltäre standen vor dem Tempel, so daß man die Opfernden sehen konnte. auch ganz offenkundig bediente er sich der Weissagungen. Es hat ja genug böses Blut gemacht, daß Sokrates sagte, die Gottheit Das δαιμονιον, die göttliche Stimme, die Sokrates in seinem Innern vernahm, so oft er etwas thun wollte, was nicht gut war; das Schweigen derselben hielt er für ein Zeichen der Billigung. Diese göttliche Stimme aber betrachtete Sokrates nicht als eine ihm allein von den Göttern verliehene Wohlthat, sondern er lehrte, von jedem Menschen, der ein unverdorbenes und reines Gemüth und wahre Frömmigkeit besitze, werde sie vernommen ( Kühner ). (Bei Xenophon ist το δαιμονιον(persönlich) die Gottheit, insofern sie in Sokrates individuell wirkt, nach Platon ist das δαιμονιον (sachlich) eine göttliche (innere) Stimme, die Sokrates zu vernehmen glaubt; Breitenbach, Einleitung § 31.) gebe ihm Andeutungen, weshalb eben ganz besonders sie, wie ich glaube, ihn beschuldigt haben, daß er fremde Gottheiten einführe.
 
3. Aber er führte damit ebensowenig etwas Neues ein, als all' die andern, welche an die Weissagekunst glauben und sich des Fluges der Vögel, der Vorbedeutungen aus der menschlichen Stimme, des Schauens der Eingeweide der Opferthiere und sonstiger Zeichen bedienen. Denn wie diese annehmen, daß nicht die Vögel, noch die ihnen Begegnenden das den Fragenden Zuträgliche wüßten, sondern daß es die Götter durch diese offenbaren, so dachte auch jener hierüber.
 
4. Aber die Meisten sagen es, als wenn sie von den Vögeln und Begegnenden ermahnt oder gewarnt würden, Sokrates hingegen sagte so, wie er dachte; er sagte nämlich, die Gottheit gebe ihm Andeutungen. Und vielen seiner Freunde gab er den Rath, dieses zu thun, jenes aber nicht zu thun, weil ihm die Gottheit eine Andeutung gäbe; und denen, die ihm folgten, gereichte es zum Nutzen, diejenigen aber, welche ihm nicht folgten, bereuten es.
 
5. Und wer wollte fürwahr nicht zugeben, daß er nicht gewünscht hätte, vor seinen Freunden als ein Narr oder Einfaltspinsel dazustehen? Beides aber würde er gewünscht zu haben scheinen, wenn er sich erst als einen Verkündiger göttlicher Offenbarungen und dann hinterher als einen Betrüger gezeigt hätte! Offenbar nun hätte er derartiges nicht vorhergesagt, wenn er nicht an die Erfüllung desselben fest geglaubt hätte. Wer möchte aber hierin wohl einem andern als einem Gotte Glauben schenken? Wenn er aber den Göttern glaubte, wie hätte er da glauben können, daß es überhaupt keine Götter gebe?
 
6. Aber wahrlich, außerdem that er auch noch Folgendes für seine Freunde. Die nothwendigen Dinge rieth er so zu thun, wie er glaubte, daß sie am besten gethan sein würden; hinsichtlich alles dessen aber, dessen Ausgang unberechenbar war, verwies er sie an das Orakel, um zu fragen, ob sie es unternehmen dürften.
 
7. Auch diejenigen, welche Haus- und Staatsangelegenheiten gut verwalten wollten, könnten, sagte er, der Weissagekunst nicht entbehren, obwohl er so etwas, wie ein Zimmermann, ein Schmied, ein Landmann, ein Beherrscher der Menschen oder einer, der dergleichen Arbeiten zu prüfen versteht, oder ein Rechenkünstler, ein Hausverwalter, oder ein Heerführer zu werden, für erlernbar hielt und glaubte, es könne auch schon durch menschliche Einsicht gewonnen werden.
 
8. Das Wichtigste aber von dem, was dabei in Betracht kommt, das, sagte er, haben die Götter sich selbst vorbehalten und den Menschen nicht offenbart. Denn weder könne der wissen, welcher seinen Acker gut bestellt habe, wer die Früchte einernten werde, noch wisse der, welcher sich ein schönes Haus gebaut habe, wer darin wohnen werde, auch wisse ein Feldherr nicht, ob seine Kriegsführung Heil bringen werde, und der Staatsmann wisse nicht, ob er mit gutem Erfolge an der Spitze des Staates stehe; auch wisse der nicht, welcher ein schönes Weib geheirathet hat, um sich desselben zu erfreuen, ob es ihm dereinst nicht Kummer bereiten werde; auch könne der nicht, welcher zu Verwandten einflußreiche Männer im Staate habe, wissen, ob er nicht gerade durch diese des Staates verlustig gehen könnte.
 
9. Diejenigen aber, welche glaubten, daß nichts von alledem von der Einwirkung der Götter abhängig sei, sondern alles Sache der menschlichen Einsicht sei, hielt er für verrückt; für verrückt aber auch diejenigen, welche Weissagungen in solchen Dingen haben wollten, welche die Götter den Menschen zur Erlernung und zur Beurtheilung übergeben hätten. Wenn z. B. einer fragte, ob es besser sei, einen des Fahrens Kundigen beim Fuhrwerk anzunehmen oder einen Unkundigen, oder ob es besser sei, einen, der das Steuern verstünde auf sein Schiff zu nehmen oder einen, der es nicht verstünde, – ein Solcher, wie auch diejenigen, welche Dinge, die durch Zählen, durch Abmessen oder durch Abwägen man sich aneignen könne, von den Göttern erfragten – alle diese hielt er für Frevler. Er behauptete, daß man alles das, was uns die Götter zur Erlernung und zur Ausführung gegeben hätten, erlernen müsse; das aber, was den Menschen unergründlich sei, müsse man mit Hilfe der Weissagekunst von den Göttern zu erfragen versuchen, denn die Götter gäben denjenigen Zeichen, welchen sie gnädig seien.
 
10. Aber er verkehrte ja immer vor Aller Augen. Denn des Morgens in der Frühe besuchte er die Säulenhallen Unter solchen Säulengängen spazierte man, um gegen die Sonnenhitze und gegen Unwetter geschützt zu sein, auf und ab. und die Turnplätze, und zur Mittagszeit konnte man ihn dort sehen, und auch zu andern Tageszeiten war er immer da zu finden, wo er mit den Meisten zusammentreffen konnte. Auch sprach er gewöhnlich, und wer wollte, konnte zuhören.
 
11. Aber keiner hatte jemals von Sokrates etwas Gottloses oder Unheiliges gesehen oder gehört. Auch redete er nicht, wie die Meisten, über die Natur des Weltalls, indem er darüber Betrachtungen angestellt hätte, was es mit dem von den Philosophen so genannten Kosmos (Weltall) für eine Bewandtnis habe und nach welchen Naturgesetzen alle Himmelserscheinungen vor sich gehen, sondern er hielt sogar diejenigen, welche über solche Dinge grübelten, für thöricht.
 
12. Und zuerst fragte er dabei, ob sie etwa schon wähnten, in menschlichen Dingen genügend erfahren zu sein und deshalb solche Grübeleien vornähmen, oder ob sie wähnten, das Geziemende zu thun, wenn sie die menschlichen Dinge bei Seite ließen und sich mit göttlichen beschäftigten.
 
13. Er wunderte sich aber, wenn es ihnen nicht klar war, daß es Menschen unmöglich sei, dieses ausfindig zu machen, da ja auch diejenigen, welche sich auf ihre Disputationen über solche Gegenstände sehr viel zu Gute thäten, nicht dieselben Ansichten hätten, sondern wie Wahnsinnige einander gegenüberständen.
 
14. Denn von den Wahnsinnigen fürchteten die einen nicht einmal das Furchtbare, andere hingegen fürchteten sich selbst vor dem nicht Furchtbaren; den einen scheine es gar nichts Schimpfliches zu sein, unter einem Pöbelhaufen beliebiges zu reden und zu thun, wieder andere scheuten sich, auch nur unter die Leute zu gehen; die einen hätten weder vor einem Heiligthum, noch vor einem Altar, noch vor sonst einem göttlichen Dinge ehrfurchtsvolle Scheu; die andern aber verehrten sogar Steine, die ersten besten Holzblöcke Die schlechtesten Götterstatuen von Stein oder Holz. und Thiere. Ebenso scheine nun auch unter denen, welche über die Natur des Weltalls sich den Kopf zerbrechen, den einen das Seiende nur ein einzelnes Ding, den andern hingegen das Seiende etwas der Zahl nach Unendliches zu sein; Daß alles Seiende nur ein Ding sei, lehrten die Eleaten, besonders das Haupt dieser Schule, Xenophanes (um 530 v. Chr.). Platon behandelt diese besonders im »Parmenides«. Daß die Welt aus unzähligen Atomen bestehe, lehrten die Atomisten, besonders Leukippos (um 500 v.Chr.) und sei« Schüler Demokritos. die einen sagten, alles sei in fortwährender Bewegung, andere, es bewege sich gar nichts; die einen glaubten, daß alles entstehe und vergehe, die andern, daß niemals irgend etwas entstanden oder vergangen sei. Meinungen des Herakleitos aus Ephesos (um 500 v. Chr.) einerseits und der Eleaten (Zenon um 460 v. Chr.) andererseits.
 
15. Er fragte über sie auch das, ob sich etwa, wie die, welche menschliche Weisheit lernten, das Gelernte im eigenen Interesse oder im Interesse eines beliebigen andern im Leben zu verwerthen beabsichtigten, ebenso auch diejenigen, welche über göttliche Dinge nachdächten, der Hoffnung hingäben, einmal, wenn sie erkannt hätten, welche Naturgesetze alles beherrschten, nach eigenem Gutdünken Winde, Regen, Jahreszeiten und was sie sonst von derartigen Dingen bedürften, machen zu können? Oder ob sie derartiges nicht einmal erhofften, sondern damit zufrieden wären, darüber, was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis habe, nur eine Meinung gewonnen zu haben.
 
16. Das war seine Ansicht von Leuten, welche sich mit solchen Dingen beschäftigten. Er selbst aber hätte sich immer über menschliche Dinge unterhalten, indem er betrachtete, was fromm, was gottlos, was schön, was schimpflich, was recht, was unrecht sei; was Besonnenheit und Keckheit, Tapferkeit und Feigheit sei; wie ein Staat und ein Staatsmann, wie Regierte und Regent sein müßten und anderes dergleichen, das, wie er überzeugt war, einen jeden, der es weiß, zu einem guten und tüchtigen Menschen macht, den aber, welcher es nicht weiß, mit vollem Rechte zu einem Knechte herabwürdigt.
 
17. Es ist demnach nicht zu verwundern, daß seine Richter in diesen Dingen, über welche seine Ansichten unbekannt waren, verkehrt über ihn urtheilten; aber sehr zu verwundern ist es, daß sie darauf nicht Rücksicht nahmen, was allen bekannt war.
 
18. Als er nämlich einmal Senator war und den verlangten Eid geschworen hatte, in welchem auch stand, nach den Gesetzen einen Rath geben zu wollen, da wollte das Volk gerade zu der Zeit, wo er Vorsteher im Demos war, gegen die Gesetze neun Feldherrn, zu welchen Thrasyllos und Erasinides gehörten, durch eine Gesammtabstimmung zum Tode verurtheilen. Sie wurden deshalb verurtheilt, weil sie nach der Schlacht bei den Arginusen (406 v. Chr.), obwohl durch einen Sturm daran gehindert, die Gefallenen nicht beerdigt hatten. Dieser Abstimmung widersetzte er sich, obwohl das Volk ihm zürnte und viele Mächtige ihm drohten; aber er hielt seinen Eid für höher, als gegen Gesetz und Recht dem Volke zu willfahren und sich vor den Drohenden in Acht zu nehmen.
 
19. Und er war überzeugt, daß die Götter für die Menschen sorgten, aber nicht in der Weise, wie der große Haufe glaubt; denn dieser glaubt, die Götter wüßten manches, manches aber wieder nicht. Sokrates aber glaubte, die Götter wüßten alles, sowohl Reden als Werke, als auch das, was heimlich ausgesonnen wird; ferner, daß sie allgegenwärtig seien und den Menschen in allen menschlichen Angelegenheiten Zeichen geben.
 
20. Ich wundere mich also, wie in aller Welt die Athener sich haben überreden lassen, daß Sokrates in Betreff der Götter verkehrte Ansichten gehabt habe, da er doch niemals gegen die Götter etwas Frevelhaftes gesagt oder gethan hat, vielmehr nur so geredet und gehandelt hat, wie einer reden und handeln muß, welcher als der Gottesfürchtigste anerkannt wird.

Xenophon's Erinnerungen an Sokrates

Vorwort.
 
Schon seit alter Zeit hat man darüber gestritten, ob Xenophon oder Platon das historisch treuere und erschöpfendere Bild von Sokrates entworfen habe, und welcher von beiden als Quelle der Philosophie des Sokrates anzusehen sei. Diese Frage hat sich mehr und mehr zu Gunsten Xenophon's entschieden, der uns in seinen Erinnerungen an Sokrates ein treues Bild von Sokrates Lehre und Persönlichkeit gegeben hat. Er hat nur Thatsächliches und Selbsterlebtes zuverlässig berichtet, und er besaß die geistige Befähigung, einen Mann wie Sokrates zu verstehen, um dessen Lehre in ihren Grundzügen richtig darzustellen. Dafür bürgt uns die Thatsache, daß Sokrates mit ihm mehrere Jahre hindurch einen näheren Umgang unterhalten hat.
 
Daß ich bei der vorliegenden Übersetzung alle mir nur irgend zugängliche Litteratur benutzt habe, versteht sich von selbst. Meiner Übersetzung habe ich die erklärende Ausgabe des um die Kritik und Erklärung Xenophon's hochverdienten Ludwig Breitenbach zu Grunde gelegt, (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, fünfte Auflage 1878). Manche Belehrung habe ich aus seinen trefflichen Anmerkungen geschöpft, was dankbar anzuerkennen ich für meine Pflicht halte. Auch die erklärende Schulausgabe von Dr. Rafael Kühner (vierte Auflage, besorgt von Dr. Rudolf Kühner, Leipzig 1882) habe ich an manchen Stellen benutzt. Von den existierenden Übersetzungen habe ich die von Neide, Finckh und Zeising gebührend berücksichtigt.
 
Was zum Verständnis des Einzelnen nöthig war, habe ich in kurzen Anmerkungen, die sich am Ende der Uebersetzung befinden, beigefügt. In Betreff der Uebersetzung selbst habe ich mich so viel als möglich, ohne der deutschen Sprache Gewalt anthun zu wollen, an das Original angeschlossen.
 
Eine Einleitung über Xenophon's Leben und Werke voranzuschicken, hielt ich für überflüssig, da eine solche sich in der Uebersetzung der Xenophontischen Anabasis (Universal-Bibl. No. 1185 und 1186) befindet, auf die ich hiermit verweise.
 
Möge diese Uebersetzung, an der ich mit Lust und Liebe gearbeitet habe, und der ich dies Geleitswort aus dem meerbespülten und waldumrauschten Ahlbeck mitgebe, den Beifall competenter Beurtheiler sich erwerben.
 
Ahlbeck auf Usedom, den 22. Juli 1883.
 
Otto Güthling.

Montag, 11. Mai 2009

"Von vorne bis hinten Murks"

 
20. April 2009, 00:00 Uhr
ANTI-BACHELOR
Marius Reiser will nicht länger Hochschullehrer sein. Aus Protest gegen Bachelor und Master hat er seine Professur aufgegeben. Im Interview erklärt der Mainzer Theologe, warum er die "Abschaffung der Universität" nahen sieht - und was Mahatma Gandhi damit zu tun hat.
 
UniSPIEGEL: Professor Reiser, fehlt es den deutschen Hochschullehrern an Courage?
 
Reiser: Ja, ohne Zweifel. Sie lassen sich Dinge gefallen, die sie sich nicht gefallen lassen müssten. Sie sehen einfach widerstandslos zu, wie mit dem Diplom ohne Not ein Studienabschluss abgeschafft wird, um den wir weltweit beneidet werden. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
 

UniSPIEGEL: Sie klingen, als ginge es um den Untergang des Abendlands, nicht um die Reform von Studiengängen.
 
Reiser: Es geht um die Abschaffung der Universität.
 
UniSPIEGEL: Übertreiben Sie da nicht etwas?
 
Reiser: Nicht im Geringsten. Wenn man all das abschafft, was eine Universität ausmacht, dann schafft man die Universität selbst ab. Die Universität war bisher autonom, und ihr Ziel hieß Bildung. Jetzt wird sie abhängig von den Vorgaben der Wirtschaft. Es geht nicht mehr um Bildung, sondern nur noch um Ausbildung. Der Student kann nicht mehr selbst wählen, welche Schwerpunkte er im Studium setzen will, sondern er bekommt, wie in der Schule, alle Inhalte haarklein vorgeschrieben und in einen engen Stundenplan gepresst. Das ist das Ende der akademischen Freiheit. Daran will ich mich nicht beteiligen.
 
UniSPIEGEL: Die Umstellung auf Bachelor und Master soll Studienabschlüsse europaweit vergleichbar machen und den Uni-Wechsel im Studium erleichtern. Das sind doch hehre Ziele.
 
Reiser: Die stehen aber nur auf dem Papier. Wenn man wirklich vergleichbare Abschlüsse haben wollte, müsste man alle Universitäten gleich gestalten. Alle müssten die gleichen Disziplinen und die gleiche Personalausstattung haben, überall müssten die genau gleichen, langweiligen Inhalte gelehrt werden. Eine furchtbare Vorstellung! Und Universitätswechsel werden durch den Bachelor-Studiengang sogar noch erschwert, weil die Stundenpläne so starr und eng sind. Viele Studierende werden sich angesichts des großen Pflichtprogramms gar nicht mehr trauen, während des Studiums ins Ausland zu wechseln.
 
UniSPIEGEL: Gerade die Diplom-Studiengänge, die Sie retten wollen, sind aber heute oft schon stark verschult.
 
Reiser: Sie sind es vor allem an den Fachhochschulen. Dort ist das ja auch in Ordnung. Aber doch bitte nicht an den Universitäten, wo eine Bildungselite an die Wissenschaft herangeführt werden soll. Wissenschaft heißt, selbständig denken, argumentieren und urteilen zu lernen, nicht, vorgegebenen Lernstoff für Prüfungen zu pauken.
 
UniSPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass kluge Studenten es auch künftig schaffen werden, links und rechts des vorgeschriebenen Lehrstoffs interessante Inhalte aufzuspüren?
 
Reiser: Es wird viel, viel schwerer. Denn es soll ja auch ständig Prüfungen geben, in denen der Stoff gleich wieder abgefragt wird. Dadurch entsteht übrigens auch für die Hochschullehrer ein riesiger Verwaltungs- und Korrekturaufwand. Mir persönlich bliebe in einem solchen System kaum noch Zeit für gründliche Forschung.
 
UniSPIEGEL: Wovon wollen Sie, nach 18 Jahren an der Hochschule, künftig leben?
 
Reiser: Ich bin ein genügsamer Mensch, ich habe kein Auto und keinen Fernseher. Ich werde die Zeit nutzen, um ein Buch zu überarbeiten, und hoffe, dass ich den einen oder anderen Vortrag halten kann.
 
UniSPIEGEL: Enttäuscht es Sie, dass keiner Ihrer Kollegen Ihrem Weg gefolgt ist?
 
Reiser: Nein, das würde ich von niemandem verlangen. Viele, die positiv auf meine Ankündigung reagiert haben, müssen eine Familie ernähren oder haben andere Verpflichtungen. Unverständlich ist mir aber, dass etliche Kollegen nicht einmal den Widerstand leisten, den sie ohne jedes Risiko leisten könnten. Wenn früher die Aufforderung kam, eine kurzfristige Stellungnahme zu Studiengängen oder Prüfungsordnungen abzugeben, hat der Dekan zurückgeschrieben, wir brauchten dafür Zeit und würden Bescheid geben, wenn wir fertig sind. Damit hätte man auch die unsinnigen neuen Verordnungen für lange Zeit auf Eis legen können. Stattdessen aber wird heute allen Aufforderungen sofort gehorsam Folge geleistet.
 
UniSPIEGEL: Sie haben die Studierenden aufgerufen, sich zu wehren, und an Mahatma Gandhi erinnert. Ging es nicht auch eine Nummer kleiner?
 
Reiser: Gandhi habe ich nur wegen der Methoden erwähnt, mit denen ein demokratischer Widerstand möglich wäre. Die Studierenden erkennen langsam selbst, was auf sie zukommt und dass sie zu einem Studienabschluss gezwungen werden, mit dem sie später kaum etwas anfangen können. Mit einem Bachelor können sie ja nicht einmal Grundschullehrer werden!
 
UniSPIEGEL: Mit Ihrem Ausscheiden aus der Universität geben Sie aber auch die Chance auf, die Schwächen des Systems zum Wohle Ihrer Studenten auszugleichen.
 
Reiser: Zu verbessern gibt es da nichts. Das System ist von vorne bis hinten Murks. Wenn man wenigstens erst einen Modellversuch gemacht und das System an ausgesuchten Hochschulen ein paar Jahre lang erprobt hätte, dann hätte man schon gemerkt, dass es nicht funktioniert. Aber nicht einmal das ist passiert. Nun wird eine komplette Studentengeneration das absehbare Chaos ausbaden müssen. Ich habe mich entschieden, da nicht mitzumachen.
 
Interview: Matthias Bartsch
 
 
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Donnerstag, 7. Mai 2009

Johannes Hirschberger

Johannes Hirschberger                                                                  Herder / Spektrum 1992

 

 

Die Sophistik

 

Die Sophisten bieten allerdings sogleich auch wieder den Beleg dafür, wie gefährlich das Instrument des menschlichen Geistes sein kann. Der menschliche Geist vermag nämlich vieles, was sich als glänzende Tugend geben dabei aber glänzendes Laster sein kann. Das zu durchschauen, erfordert selbst wieder nicht bloß Geist, Sondern Reife des Geistes.

Die Sophistik entsteht zu einer Zeit, in der Griechenland sich anschickt, Großmachtpolitik zu treiben. Zu so etwas braucht man Könner. Die Sophisten boten sich an, solche Könner auszubilden.

Sie versprachen die Aretè zu lehren. Übersetzt man diesen Ausdruck wörtlich mit Tugend und versteht Tugend im herkömmlichen Sinn, dann kommt genau das Gegenteil von dem heraus, was gemeint war.

Aretè heißt nämlich im Munde der Sophisten nur Tüchtigkeit. Und diese Tüchtigkeit war nicht wählerisch. Es war eine Tüchtigkeit, die zu allem fähig war (panurgia), wie Platon treffend dafür gesagt hat. Hauptsache war den Sophisten dabei die Rhetorik, die Kunst, sprechen schreiben und auftreten zu können. Das gerade braucht ja der politische Führer. Und da hatten sie nun gefährliche Grundsätze. Man müsse verstehen, etwas zu werden, der Erste zu sein, Macht zu erwerben und zu behalten, sich durchzusetzen, das Leben zu meistern und es zu genießen. Dafür war dann alles recht — und daher ihr Grundsatz, der tüchtige Redner müsse fähig sein, die schlechtere Sache zur stärkeren zu machen, nicht durch die Erhellung der Wahrheit, sondern einfach durch Überredung. Daher Platons ständiger Tadel: Euch geht es überhaupt nicht um die Sache oder um die Wahrheit oder um das Recht, euch geht es nur um die Macht, und im Grunde seid ihr ohne jede Einsicht in die Wahrheit und die Werte des Menschen — und darum seid ihr nicht Führer, sondern Verführer.

Dafür besaßen die Sophisten auch die entsprechende Weltanschauung, einen allgemeinen Relativismus: Es gibt keine Wahrheit und gäbe es eine, dann könnte man sie nicht erkennen, und konnte man sie erkennen, wäre sie nicht mitteilbar, wie Gorgias (483—375) zu sagen pflegte. Oder wie einer ihrer bekanntesten meinte, Protagoras (ca. 481—411), alles sei relativ, subjektiv, je nach dem Dafür halten des einzelnen: „Wie etwas mir erscheint, ist es für mich, wie dir, so ist es für dich." Darum steht nichts mehr dem Menschen gegenüber weder objektive Sachverhalte noch ein ewiges Recht, noch ewige Götter, sondern „der Mensch ist das Maß aller Dinge" (Protagoras). Die Sophisten bemühten sich, auf alle Weise zu zeigen, wie relativ die Satzungen des Rechtes, der Sittlichkeit oder der Religion seien. Nichts sei hier „von Natur", d.h. ewig gültig, sondern alles sei nur durch menschliche „Satzung" und Übereinkunft so geworden. Und auch für ihre Machtideologie suchten sie nach einem philosophischen Mäntelchen. Es sei das Gesetz der Natur, so meinten sie, daß der Stärkere über den Schwachen herrsche. Das war hier das „Naturrecht". Bei Nietzsche und Hobbes wird es später wieder aufleben. Und auch im Soziologismus der Gegenwart, in dem die Soziologie als Wissenschaft zur Ideologie entartet ist, erlebt die Sophistik eine Wiederkehr: hier wie dort gibt es keine bleibenden Wahrheiten und Werte, sondern man orientiert sich an dem bloß Faktischen, das Zeitgeist, Willkür, Macht und Geschichte uns zuspielen, und rechtfertigt es dann, genauer propagiert es, durch eine journalistische Dialektik, die das kritische Denken verdirbt bis hinein in Pädagogik, Justiz und Politik, was ja immer schon der Tummelplatz der Sophisten gewesen war.

Daß die vielberedete Relativität nicht die sittlichen Werte selbst betraf, sondern nur das menschliche Bewusstsein von diesen Werten, nicht die objektive Geltung, sondern nur die geschichtliche Ausdrucksform, diese tiefere Einsicht war ihnen nicht aufgegangen Und auch nicht die andere Unterscheidung daß ihr „natürliches Recht"

nur natürliche Begehrlichkeit ist, wie Thomas Hobbes dieselbe Sache sehr viel später richtig nennen wird. Aber es hat einen Mann gegeben der ihnen ihre Wertblindheit genau vorrechnete, Platon.

Alle seine Jugendschriften sind gegen die Sophisten gerichtet. Das witzigste Argument dabei war sein Wort vom Lügner und vom Dieb. Platon sagte nämlich, man müsse den Grundsatz, daß es nur auf das Können allein und als solches ankomme, einmal richtig durchdenken. Wenn es wirklich so ist, dann ist der Lügner „besser", weil „tüchtiger" als der, der die Wahrheit spricht denn er überrundet ihn ja; und ebenso ist dann der Dieb „besser" als der Wächter, denn er „kann" ja noch mehr, weil er ihn überlistet. Mit dem Können allein ist es also nicht getan.

Aber das wird oft nicht recht durchschaut. Die Kunst des schönen Sprechens und Schreibens, also das humanistische Ideal der nur formalen Bildung, wird immer Gefallen finden. Auch da kann Sophistik noch am Werke sein. Für diese Leute hat Platon umsonst geschrieben, soviel Kluges sie auch über ihn zu sagen wissen. Sie sind daher in seinen Augen nur Liebhaber des Wortes (philologoi), aber nicht des Gedankens und seiner Weisheit (philosophoi) weil die Reife des Geistes fehlt, sein Wahrheitsbewußtsein und das Wertgefühl der sittlichen Vernunft. Es gibt eine ewige Sophistik die immer den Schein mehr heben wird als das Sein. Alle Leistung wird immer blenden. Wenn man aber das Können des Menschen, sei es nun Wissen oder Willensmacht, nicht unter sittliche Wertprinzipien stellt und davon leiten lässt, dann hat das seine Konsequenzen. In einer die an Leistung und Macht allein orientiert ist, wird der Egoismus zur Notwendigkeit werden. Man kann ihn dann maskieren, kann die Lüge Propaganda heißen und den Diebstahl Gemeinwohl aber bei der Tatsache der bloßen Macht wird es bleiben. Wer ihre Vorteile genießen will, wird dann auf immer abhängen von der höchstmöglichen Raffinesse jener routinierten Könner, die zu allem fähig sind.

 

 

Der Staat

 

Platon hat unter diesem Gesichtspunkt seine Staatsformen gefunden. Wenn ein Staat von den geistig und sittlich Besten geleitet wird, dann handelt es sich um eine Aristokratie; ist der Leiter nur einer von diesen Besten, dann um eine Monarchie. Herrschen nicht mehr die wirklich Besten, sondern die Ehrsüchtigen, die sich für wertvoll halten, weil sie Mut und Entschlossenheit haben, gute Jäger, Sportler und Soldaten sind, tatkräftige Praktiker, schlaue Taktiker und findige Karrieremacher, dann handelt es sich um eine Timokratie.

Diese Männer haben schon wieder Privateigentum und bereichern sich insgeheim. Sie dienen weniger dem Ganzen und der Sache als ihrem subjektiven Geltungstrieb. Greift das Sich-Bereichern noch mehr um sich und herrscht nur noch eine Gruppe von einigen Reichen, die nichts anderes im Auge haben als materielle Wirtschaftsmacht und eigenen Vorteil, immer bereit, diesen Dingen die höheren menschlichen 'Werte unterzuordnen, dann haben wir eine Oligarchie vor uns. Von den drei Seelenteilen Vernunft (Aristokratie), Mut (Timokratie) hat jetzt der dritte, die BegierdeseeIe sich in den Vordergrund gespielt. Beherrscht er aber überhaupt das Feld, so daß jeder Staatsbürger „weder Ordnung noch Pflichtenzwang kennt,

sondern nach Lust und Laune in den Tag hinein lebt und das ein

liebliches, freies und seliges Leben heißt" (Staat 561), so haben wir

es mit der Demokratie zu tun. Das Maß der mehr oder weniger großen Annäherung an das ideal von Ordnung und Recht ging hier, so meint Platon, gänzlich verloren, weil man überhaupt nicht mehr an Wahrheit und Recht an sich glaubt sondern nur sein subjektives Begehren kennt, mit dem man dann alles Weitere der gesellschaftlichen Verhältnisse aushandelt. Deswegen sind jetzt auch alle gleich.

Allem Anschein nach eine reizende Staatsverfassung, herrschaftslos,

buntscheckig, so etwas wie Gleichheit gleichmäßig, an Gleiche und

Ungleiche verteilend (Staat 558). Die äußerste Entartung aber besteht in der Tyrannis. Wenn die Freiheit zur totalen Zügellosigkeit geworden ist, schlägt sie in ihr Gegenteil um. „Das Übermaß im Vorwärtstreiben der Dinge pflegt den Umschlag ins Gegenteil als Rückschlag zur Folge zu haben, in der Witterung, im Wachstum

der Pflanzen und Leiber und nicht zum wenigsten auch in den Verfassungen." In den inneren Auseinandersetzungen des allgemeinen Mehrhaben-Wollens braucht das Volk Führer. Und weil es die Gewohnheit hat, „immer einen im Vorzug vor den anderen an die Spitze zu stellen und ihn zu hätscheln und allrnächtig zu machen",

kann es dazu kommen, daß ein solcher Volksführer, wenn er einmal das Blut des Machtbesitzes geleckt hat, dem Macht- und Größenwahn verfällt und nun alles tut, an der Macht bleiben zu können.

Er wird alles Recht aufheben, das Volk seinen Knechten, wird diese Knechte anderen Knechten ausliefern, bis „endlich das Volk erkennt, welchen Unhold es sich erzeugt und großgezogen hat". Und jetzt sieht man, was Tyrannei ist: Sklaverei unter Sklaven. Nicht nur das Volk ist Sklave, auch seine Zwingherrn sind es und schließlich der Tyrann selbst. Er ist Sklave seiner eigenen Leidenschaften, für den Philosophen eines auf Vernunft und Wahrheit, Freiheit und sittlichem Wollen beruhenden Menschentums verkörpert er die Staatsform der äußersten Greuel.