Sonntag, 14. Juni 2009

RELIGIÖSE URSPRÜNGE

"Unser Herz schlägt hier"
 
Geheime Tunnel, meterdicke Mauern, 3000 Jahre alte Siegel: Archäologen suchen nach dem Ursprung Jerusalems und wollen König Davids Palast entdeckt haben - aber unter einem arabischen Viertel.
 
Das Rauchen hat sich Jawad Siyam angewöhnt, als die Israelis ihn mal wieder eingesperrt hatten. Er war so oft im Gefängnis, dass er nicht mehr genau weiß, wann. Siyam steckt sich eine Gauloises an, schiebt die Sonnenbrille wie immer ins Stoppelhaar und blinzelt ins gleißende Mittagslicht.
 
Der Palästinenser schaut die Straße hoch, auf Jerusalems Tempelberg, rund 300 Meter weit weg von seinem eigenen Haus. Er schaut die Straße hinunter, dort haben Archäologen Gruben zwischen die Grundstücke der Palästinenser gegraben. Israelische Flaggen wehen über Gittern, auf Hausdächern patrouillieren Männer mit Gewehren. Sie würden auf ihn schießen, wenn er einen Fehler macht. Siyam macht aber keine Fehler, nicht mehr: "Wir wollen keine Gewalt", sagt er, doch "dieses Land hier ist uns heilig."
 
Keine hundert Meter weiter blickt etwas später Doron Spielman durch ein Stahlgitter, das seine Arbeiter über uralten Mauern errichtet haben. Man kennt das Gesicht des Israelis weltweit aus den Fernsehnachrichten: Jüngst beim Feldzug gegen Gaza redete Captain Doron Spielman meist vor der brennenden Palästinenserstadt. Als Armeesprecher versuchte er, der Welt zu erklären, warum Israel schießen müsse.
 
Spielman wirkt gut im Fernsehen, entschlossen, smart, ziemlich amerikanisch. Er spricht Englisch mit dem Sound des Mittleren Westens, er stammt aus Detroit, zum Israeli wurde er erst vor wenigen Jahren. Für Israel kämpfen, das ist seither sein Leben, egal an welcher Front.
 
"Dies hier ist der Ort, an dem alles begann", sagt Spielman, er meint die Ruinen unter seinen Füßen. Wohin auch immer es Juden verschlage - "unser Herz schlägt hier". Wenn ihn die Armee nicht braucht, befehligt er als Direktor einer Organisation namens "Ir David" eine Schar von Arbeitern und Archäologen.
 
Was sie ausgraben, glauben manche, soll der Palast des ersten jüdischen Königs David sein, 3000 Jahre alt. Gesucht wird also Davids Stadt: "Ir David" eben - das erste Jerusalem, älter noch als die sogenannte Altstadt.
 
Siyam, der Palästinenser, und Spielman, der Israeli, reden nicht miteinander. Sie kennen sich aber, sie beobachten sich. Denn auch wenn nicht geschossen wird, kämpfen diese beiden Männer - einen Kampf, der vor 3000 Jahren begann.
 
Es geht nicht nur um die Anfänge der Heiligen Stadt dreier Religionen. Es geht um die jüdische Identität und Beweise, die Archäologen herbeischaffen sollen. Es geht um die Macht in Jerusalem, in Israel, um einen eigenen Palästinenserstaat und um die Weltpolitik. Deshalb streitet die neue amerikanische Außenministerin Hillary Clinton mit der neuen israelischen Regierung um genau die Häuser, für die Jawad Siyam kämpft. Und auch die Europäische Union warnte vor wenigen Wochen, was da passiere, sei eine "akute Gefahr" für den Friedensprozess.
 
Denn Spielman und seine Archäologen wollen das Jerusalem des Alten Testaments ausgerechnet unter dem Stadtteil Silwan entdeckt haben - im palästinensischen Osten der Stadt. Silwan soll irgendwann Teil der Hauptstadt Palästinas werden, so ergibt es sich aus vielen Papieren, die nach internationalen Verhandlungen verfasst wurden.
 
Aber jetzt vertreiben konservative Israelis die Palästinenser, eine Familie nach der anderen. Wohnhäuser werden abgerissen, durchs Viertel auf dem Hügel neben dem Tempelberg wühlen sich Archäologen. Geplant ist ein Bibel-Disneyland für 100 Millionen Dollar - Israel wird Davids Stadt nie wieder hergeben, die Palästinenser werden nie auf Silwan verzichten. Und so verhindert der König von damals den Frieden von morgen.
 
Denn die Zeit vergeht nicht in Jerusalem, nicht so wie an anderen Orten. Alles ist Gegenwart. Was vor Jahrtausenden passierte genauso wie das, was vor Jahrzehnten geschah. Nichts wird vergeben, schon gar nichts vergessen. Die Menschen von heute verstricken sich heillos in den Kämpfen ihrer Vorfahren.
 
Das jüngste Gefecht begann 1993. Bis dahin galt König David als mythische Gestalt. Er war der Hirtenjunge, der nach der Zeitrechnung der Bibel um 1000 v. Chr. den Riesen Goliath tötete, er war der Diplomat und der Trickser, der mit Ränkespielen herumziehende Stämme zu einem Volk einte. Er war aber auch der König, der Psalmen dichtete, und der Krieger, der dem neuen Volk eine Hauptstadt eroberte: Jerusalem. "Jeder kleine Junge in Israel will König David sein", sagt Spielman.

Doch lebte David einst tatsächlich, liegt hinter der Legende eine Wahrheit? Über tausendmal erwähnt die Bibel David, aber ansonsten gab es kein Indiz - bis Archäologen 1993 im Norden Israels eine Steintafel fanden mit zwei Inschriften. Eine erwähnt das "Haus Davids", und in der zweiten stehen die Wörter "König von Israel".
 
Jahrzehnte zuvor hatten Kollegen direkt südlich der heutigen Altstadt Jerusalems gewaltige Fundamente ausgegraben, unter ihnen lagen Eingänge zu Tunneln. Die Mauern gehörten wohl zu einer befestigten Stadt. Vielleicht 4000 Jebusiter lebten vor 3000 Jahren auf diesem Hügel, sie nannten ihre Burg "Zion".
 
David fand laut Bibel die Schwachstelle dieser Bergfestung, den "Tsinnor", einen geheimen Tunnel, durch den die Jebusiter bei einer Belagerung Wasser aus einer Quelle im Kidron-Tal holen konnten. Ein Stoßtrupp kletterte durch den Tunnel in die Stadt, Zion fiel - und Jerusalem war geboren. David begann sofort, die Stadt zu erweitern; als Erstes ließ er sich einen Palast bauen.

Wenn David tatsächlich gelebt hat und wenn diese Trümmer auf dem Hügel einst Zion waren, dann müsste sich die Spur des Königs dort finden lassen, dachte sich die Archäologin Eilat Mazar.
 
Sie war schon aufgewachsen mit Schaufeln, dem Staub der Grabungsstätten und der Bibel. Ihr Großvater galt als führender Archäologe des jungen Staates Israel. Eilat Mazar ist jetzt eine starke blonde Frau, ihre vier Kinder zieht sie allein groß, sie hat keine Zeit für Zweifel. Und sie glaubt an die Schrift: "Ich arbeite mit der Bibel in der einen Hand und den Werkzeugen in der anderen Hand."
 
1997 las sie im Buch Samuel über den Angriff der Philister auf die Stadt Davids. Und diesmal fiel Mazar ein Nebensatz auf: Direkt vor der Attacke sei David "herabgestiegen" in die Festung. "Herabgestiegen von wo?", fragte sich Mazar - der König könne ja wohl nur aus seinem Palast gekommen sein, der müsse also etwas höher gestanden haben.
 
1997 veröffentlichte sie ihre Theorie im Fachblatt "Biblical Archaeology Review", illustriert mit einem Plan der Jebusiter-Festung. In die Grafik zeichnete sie einen Pfeil, er zeigte auf einen Punkt südlich des heutigen Tempelbergs. Darunter stand: "Dort muss er sein."
 
Archäologie ist ein langwieriges Geschäft, aber 2005 konnte Mazar anfangen zu graben. Innerhalb von Monaten stieß sie auf Mauern eines gewaltigen Gebäudes, bis zu fünf Meter dick, sie fand Keramiken, Tunnel, Tonsiegel mit den Namen von Ministern, die in der Bibel stehen.
 
Archäologen nummerieren ihre Funde und die Fundstellen. Ein Kernstück von Mazars Theorie, dass vor 3000 Jahren hier der Mensch David lebte, ist "Locus 47", eine winzige Mauerlücke, man könnte sie mit einem Küchenhandtuch abdecken. Heute liegt auf Locus 47 ein zerdrückter Plastikbecher, Kraut wächst aus Steinritzen. Aber mit Hilfe von Tonscherben, die Mazar dort fand, und aufgrund der Bauweise glaubt sie, könne sie die Ruinen präzise datieren - auf das Jahr 1000 vor Christus. Dies sei eine erste Ecke von Davids Palast.
 
Andere Archäologen bezweifeln die Datierung, aber es gibt größere Probleme: Mazar und nach ihr Kollegen konnten bislang nur einen kleinen Teil der Stadt ausgraben. Denn schon König Davids Sohn Salomo verlegte das Zentrum auf den nächsten Hügel im Norden. Später brannten die Babylonier die Davidstadt nieder.
 
Mazar fand in einem verschütteten Tunnel intakte Öllampen, die vielleicht die letzten Juden des alten Jerusalem trugen, als sie versuchten, vor den Feinden zu fliehen. "Dort endete das Leben", sagt Spielman.
 
Jahrhundertelang lag der Hügel verlassen da, ein Müllabladeplatz, ein Olivenhain, eine Ziegenweide. Dann bauten Araber auf den Ruinen; ihr Stadtteil wuchs in die Täler rundum, sie nannten ihn Silwan. Heute leben dort vielleicht 50.000 Palästinenser. Und das alte Jerusalem liegt unter ihren Häusern. Wer es ausgraben will, muss die Menschen vertreiben. Das zweite Problem: Die israelische Altertumsbehörde kann die Arbeiten nicht bezahlen. Geld hat aber eine jüdische Siedlerorganisation namens Elad, sie steht hinter Spielmans Projekt Davidstadt. Die rechtsnationale Gruppe bezahlt die Archäologen der Behörde. Woher die Millionen stammen, verrät Spielman nicht. Aber Ehrengast bei der Einweihung des neuen Besucherzentrums war der russisch-jüdische Oligarch Roman Abramowitsch.
 
Spielmans Leute dringen immer weiter vor. Manche Häuser kaufen sie den Palästinensern ab, andere werden enteignet. Es gibt praktische Gesetze in Israel für so etwas, zum Beispiel jenes, nach dem Palästinenser enteignet werden können, wenn sie längere Zeit nicht da sind. Zudem bauten viele ihre Häuser formal illegal, weil Araber in Jerusalem so gut wie nie eine Baugenehmigung bekommen.

Die Stadt, der Staat und Elad arbeiten Hand in Hand, den Namen "Silwan" haben sie den Palästinensern schon genommen. Der Stadtteil heißt jetzt "Ir David", die Hauptstraße Wadi Hilwah Straße heißt "Ir David Aufstieg".
 
Auf jedem leeren Grundstück fangen sie an zu graben, in manche Häuser ziehen Elad-treue Siedler. Sie setzen Funkantennen auf die Dächer, falls Terroristen die Telefonleitungen zerschneiden, sie schrauben Kameras an Laternenpfähle. Sie tragen Sturmgewehre beim Sabbat-Spaziergang, und Gitter über Dach und Scheiben schützen ihre Geländewagen, wie Schildkröten sehen die klobigen Autos aus.
 
 
 
Es geht Spielman darum, zu zeigen, dass dies schon immer jüdisches Land war, dass nach David nichts kam, zumindest nichts, was eine Schaufel nicht schnell beiseiteschieben kann. Seine Archäologen haben kein einziges muslimisches Gebäude gesichert, sogar einen jahrhundertealten Friedhof baggerten sie mitsamt den Knochen einfach weg.
 
"Wir waren eine Nation ohne Ort. Wir haben auch heute kein Mekka oder Medina", sagt Spielman, "wir haben nur dieses kleine Stück Erde, Israel. Es ist eine fragile Existenz." Deshalb gehe es darum, so tief wie möglich zu wurzeln, am besten so tief, wie Wurzeln in 3000 Jahren wachsen können.
 
"Sie nutzen die Archäologie als Werkzeug für ihre Pläne", sagt der Archäologe Yoni Mizrachi. "Archäologen sollen eigentlich nach den Spuren alter Kulturen suchen. Sie aber suchen nach Belegen, dass ihnen das Land gehört."
 
Mizrachi trägt seine Haare im Pferdeschwanz, das erste Grau ist zu sehen, er kennt seine Gegner seit langem. Der Israeli hat schon mit Eilat Mazar zusammengearbeitet, "sie ist gut", sagt er, "aber sie folgt ihrer Agenda: Sie will die Bibel beweisen."
 
Er selbst hat lange für die Altertumsbehörde gegraben, auch auf Palästinenserland; Bodyguards mussten ihn schützen. "Als Archäologe änderst du nicht nur, was die Menschen sehen, sondern vor allem, wie sie es sehen. Das ist eine enorme Macht." Und oft werde sie missbraucht.
 
Deshalb hat Mizrachi seinen Job hingeworfen: "Man trifft seine Entscheidungen, und so ist das Leben dann." Er schreibt jetzt Essays, oder er führt Touristen durch die Ruinen der Davidstadt. Er sagt ihnen, welcher Stein welche Geschichte erzählt. Er sagt ihnen aber auch, wo die historische Wahrheit endet und die politische Fiktion beginnt. 1500 Menschen kamen im vergangenen Jahr mit Mizrachi und ein paar Kollegen, 500.000 aber ließen sich von Spielmans Führern die David-Theorie als Wahrheit verkaufen.
 
Ohne seinen Freund Jawad Siyam hätte Mizrachi wohl keine Chance. Siyam lebt ein kompliziertes Leben. Seine Frau ist eine christliche Serbin aus Bosnien mit deutschem Pass. Er selbst entstammt einem der großen Araber-Clans, doch studiert hat er unter anderem in Berlin. Er spricht fünf Sprachen, er hat seine Doktorarbeit (Amerikanistik) schon im Kopf. Aber er hat keinen Pass, sondern nur eine Karte, die ihn als Bewohner Jerusalems dritter Klasse ausweist: Er darf Steuern zahlen, wählen darf er nicht, und die Stadt lässt sein Viertel verfallen.
 
Siyam organisiert den Widerstand, er hat lange gelernt dafür. Als Jugendlicher warf er bei der Intifada Steine, dann bekämpfte er den Imperialismus, wie er sagt, als Mitglied der Fatah.
 
Er wirft keine Steine mehr, er hat jetzt Anwälte. Er hält Vorträge über den illegalen Vormarsch der Israelis, er gibt der "Washington Post" Interviews zur Nahost-Politik, er redet mit Reisegruppen. Siyam will, dass es Zeugen gibt. Und manche Israelis wünschen sich, er würde wieder Steine werfen, das wäre leichter.
 
Siyam hat mit Israelis und Palästinensern zusammen einen Verein gegründet, sie haben ein Haus gemietet. Moniereisen ragen in den Himmel, Geckos huschen über raue Wände, aber hier bringen Lehrer den Frauen Hebräisch bei, damit sie sich im Alltag besser zurechtfinden; sie machen eine Zeitung, Web-Seiten, und manchmal kommt ein Zirkus. "Wir wollen dem Leben in Silwan eine Bedeutung geben. Dies ist nicht eine Müllhalde, die man einfach abräumen kann."
 
Die Palästinenser kämpfen um jedes Haus, jeden Quadratmeter. Keine Familie soll freiwillig aufgeben, aber erst vor kurzem kam wieder ein Bulldozer, beschützt von Kommandosoldaten mit Gesichtsmasken. Polizisten zerrten eine Familie aus ihrem Haus, dann walzte der Caterpillar durch die Wände.
 
Immer wieder geht das so, und trotzdem kann Siyam nicht klein beigeben. "Ich will hier leben", sagt er: im Haus seines Vaters. Es steht wohl ziemlich genau mitten über Davids Stadt. "Es geht auch um unsere Identität", sagt Siyam. Wie soll es einen Kompromiss geben?
 
Jawad Siyam ist 39 Jahre alt; Doron Spielman von Elad ist 35, der Archäologe Yoni Mizrachi 38. Sie gehören zur selben Generation, und diese Generation wird die Zukunft im Nahen Osten bestimmen. Es sieht nicht so aus, als könnte sie Frieden schließen.

© SPIEGEL Geschichte 3/2009

Donnerstag, 4. Juni 2009

KÖNIG HERODES

König, Monster, Bauherr
 
Herodes der Große ging als Kindermörder in die Geschichte ein, wohl zu Unrecht. Brutal war er offenbar wirklich, machtbewusst - und erfolgreich.
 
Das Neue Testament gilt gemeinhin als "Gute Nachricht". Aber für einige überliefert es auch sagenhaft schlechte Botschaften: Über Herodes I., genannt Herodes der Große, jedenfalls enthält die Schrift einige wenige Sätze, die reichten, um ihn scheinbar auf ewig zum Kindermörder abzustempeln: "Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig", so steht es im Evangelium des Matthäus, "und er ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte." Das ist er also, Herodes, der monströse Verbrecher, der Urböse - und Jude dazu. So ging er in das kollektive Gedächtnis der Menschheit ein.
 

Geschichtsschreibung und ihre Deutung wird inzwischen filigran erforscht. Und so widerfuhr Herodes späte Wiedergutmachung. Heute sind sich viele Historiker in einem Punkt einig: Die Erzählung vom Kindermord sollte die Geburt Jesu noch aufwerten, stimmen aber dürfte sie nicht. Denn der jüdische Historiker Flavius Josephus, dessen Chroniken die Hauptquelle zu Herodes bilden, erwähnt die Mordgeschichte überhaupt nicht.
 
Und auch in Punkt zwei ist alter Glaube neuen Zweifeln gewichen. Ob der "König der Juden" wirklich Jude war, ist Interpretationssache. Wahrscheinlich hatten seine Vorfahren - freiwillig oder gezwungen - den jüdischen Glauben angenommen, Herodes war als Jude erzogen worden, jedoch ohne direkt jüdischer Abstammung zu sein.
 
Klar ist in der Causa Herodes so viel: Er wurde circa 73 vor Christus geboren und starb 4 Jahre vor Christi Geburt. Er war ein machtbewusster Herrscher, König über Judäa, Samarien und Galiläa, über ein Gebiet, das im Norden weit über das heutige Israel hinausgeht. Aber er war nur Herrscher von römischen Gnaden, vielleicht vergleichbar mit einem Ostblock-Staatschef im Sowjetreich. Herodes verwaltete die ihm anvertrauten Gebiete im Auftrag Roms.
 
Aber was ist schon vergleichbar, was für den heutigen Betrachter der Person Herodes vorstellbar? Seine persönliche Lebensbilanz etwa? Zu ihr gehören sagenhafte zehn Ehen, darunter mit Frauen, deren Namen der Nachwelt nicht überliefert wurden. Aus den vielen angeblichen Verbindungen stammen unzählige Kinder. Einige brachten es zu trauriger Bekanntheit, eine Bekanntheit, die auch ein wenig erklärt, wie Herodes in den Ruf des Kindermörders geraten konnte. Er ließ drei seiner eigenen Söhne hinrichten, weil er ihnen Putschpläne und Intrigen vorwarf.
 
Geschichtsschreiber, auf die sich die Herodes-Forschung bezieht, haben vom Hof des Herrschers Erzählungen hinterlassen, die als Vorlage für Kriminalfilme dienen könnten. Von blindem Hass wird berichtet, von verqueren Liebes- und Bettgeschichten ist da die Rede, von Machtkämpfen und heimlichen Bündnissen, von Folter und immer wieder von Hinrichtungen auf Befehl Herodes'.
 
Eine der tödlichen Affären soll sich kurze Zeit vor dem Tod des Königs abgespielt haben, die sogenannte Adler-Affäre. Zwei jüdische Gesetzeslehrer sollen dazu aufgerufen haben, einen großen Adler vom Sockel zu reißen, den Herodes als Zeichen seiner Macht am jüdischen Tempel angebracht hatte. Für die Strenggläubigen, denen Herodes nie Jude genug war, offenbar ein Frevel. Als sich die Randalierer daranmachten, das Steinrelief in Stücke zu schlagen, griff die Tempelwache ein, 40 Personen wurden Herodes vorgeführt. Er machte ihnen den Prozess, ließ die Anstifter lebendig verbrennen und die Mittäter hinrichten.
 
Um Macht ging es in der Affäre, auch um die Macht, die ein Bauwerk symbolisierte. Das Verhältnis des Königs Herodes zu Prunkbauten, könnte man zynisch resümieren, war inniger als das zu seinen Frauen und Kindern. Der Anblick Roms muss ihn als Bauherren geprägt haben. In dieser Hinsicht ist die Bezeichnung Herodes der Große keinesfalls eine Übertreibung.
 
Mit römischer Technik trieb er für die damalige Zeit gigantische Projekte voran: den Tempelbau in Jerusalem, Paläste, Festungen, Wasserleitungen, Hafenanlagen. Spuren der Bautätigkeit des Herodes sind bis heute überall im Heiligen Land erkennbar: der Palast des Herodes etwa am Nordhang von Masada am Toten Meer, dessen Reste im sommerlichen Abendlicht heute die Touristen faszinieren.
 
Von seinem Vater 47 vor Christus als Statthalter von Galiläa eingesetzt, hatte Herodes zu Beginn seiner Karriere vor gefährlichen Widersachern aus Jerusalem fliehen müssen. Damals reiste er erstmals übers Meer in die Ewige Stadt, deren imposante Bauten ihn so nachhaltig beeindruckten. Sie waren nicht nur Zeichen der Macht, sondern auch Symbole der Dauerhaftigkeit in einer Zeit voller Ungewissheiten, voller Angst vor tödlichen Intrigen.
 
Nach seiner Rückkehr aus Rom, wo er zum König von Judäa ernannt worden war, zog er in den Krieg gegen den Hasmonäer-Herrscher Antigonos und schlug seine Feinde vernichtend. Er eroberte Jerusalem zurück und konnte seinen Herrschaftsbereich ausdehnen. Er war jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht, er galt als guter Herrscher, bekämpfte Hungersnöte, senkte die Steuerlast, er brachte die Wirtschaft - speziell die Bronzeherstellung - voran, hielt eine Balance, die ihm als diplomatisches Geschick ausgelegt wurde. Er blieb stets loyal zu Rom und huldigte gar den heidnischen Göttern, was ihm daheim als Verrat am Judentum vorgeworfen wurde.
 
Pompös muss das Leben des Herodes zu Ende gegangen sein, mit einer prachtvollen Beisetzung in einem eigenen Mausoleum südlich von Jerusalem. Von einer gewaltigen Prozession wird berichtet, von einem Leichnam in Purpur, von Hunderten Dienern, die dem Trauerzug folgten.
 
2007 wurde seine Grabstätte auf dem Herodeion entdeckt, einem Hügel im Süden von Jerusalem, den der König für seinen Festungs- und Palastbau eigens hatte erhöhen lassen. Seitdem werden Funde ausgewertet, das Bild dieses bedeutenden Herrschers wird präzisiert. Aber die spektakuläre Entdeckung wurde zum Zankapfel der Politik. Denn die historische Stätte liegt im Westjordanland, im Gebiet der Palästinenser also. Und so streiten Israelis und Palästinenser darüber, wem das Erbe des Herodes wirklich zusteht. In dieser Hinsicht scheint sich über Tausende von Jahren im Heiligen Land wenig geändert zu haben.

© SPIEGEL Geschichte 3/2009

Samstag, 16. Mai 2009

Xenophon's Erinnerungen an Sokrates

Erstes Buch.
1. Kapitel.
Vertheidigung des Sokrates gegen die Beschuldigung, daß er nicht die Götter des athenischen Staates verehrt und neue Gottheiten eingeführt habe.
 
1. Oft habe ich mich darüber gewundert, durch welche Gründe in aller Welt die Ankläger des Sokrates den Athenern überzeugend nachgewiesen haben mögen, daß er den Tod um den Staat verdient habe. Die gegen ihn erhobene öffentliche Klage lautete nämlich ungefähr so:
Sokrates thut Unrecht, einmal dadurch, daß er die Götter nicht anerkennt, welche der Staat anerkennt und andere fremde Gottheiten einführt, sodann aber auch dadurch, daß er die Jugend verführt.
 
2. Was nun das Erste anlangt, daß er die Götter nicht anerkenne, welche der Staat anerkennt, was für einen Beweis in aller Welt mögen sie da vorgebracht haben? Bekanntlich opferte er oft zu Hause, D. h. in einem das Haus umgebenden und von einer Mauer eingeschlossenen freien Platze, in dessen Mitte der Hauptaltar des Ζευσ Ερχειοσ Greek stand. oft auch auf den öffentlichen Altären der Stadt; Diese befanden sich unter freiem Himmel; auch die Tempelaltäre standen vor dem Tempel, so daß man die Opfernden sehen konnte. auch ganz offenkundig bediente er sich der Weissagungen. Es hat ja genug böses Blut gemacht, daß Sokrates sagte, die Gottheit Das δαιμονιον, die göttliche Stimme, die Sokrates in seinem Innern vernahm, so oft er etwas thun wollte, was nicht gut war; das Schweigen derselben hielt er für ein Zeichen der Billigung. Diese göttliche Stimme aber betrachtete Sokrates nicht als eine ihm allein von den Göttern verliehene Wohlthat, sondern er lehrte, von jedem Menschen, der ein unverdorbenes und reines Gemüth und wahre Frömmigkeit besitze, werde sie vernommen ( Kühner ). (Bei Xenophon ist το δαιμονιον(persönlich) die Gottheit, insofern sie in Sokrates individuell wirkt, nach Platon ist das δαιμονιον (sachlich) eine göttliche (innere) Stimme, die Sokrates zu vernehmen glaubt; Breitenbach, Einleitung § 31.) gebe ihm Andeutungen, weshalb eben ganz besonders sie, wie ich glaube, ihn beschuldigt haben, daß er fremde Gottheiten einführe.
 
3. Aber er führte damit ebensowenig etwas Neues ein, als all' die andern, welche an die Weissagekunst glauben und sich des Fluges der Vögel, der Vorbedeutungen aus der menschlichen Stimme, des Schauens der Eingeweide der Opferthiere und sonstiger Zeichen bedienen. Denn wie diese annehmen, daß nicht die Vögel, noch die ihnen Begegnenden das den Fragenden Zuträgliche wüßten, sondern daß es die Götter durch diese offenbaren, so dachte auch jener hierüber.
 
4. Aber die Meisten sagen es, als wenn sie von den Vögeln und Begegnenden ermahnt oder gewarnt würden, Sokrates hingegen sagte so, wie er dachte; er sagte nämlich, die Gottheit gebe ihm Andeutungen. Und vielen seiner Freunde gab er den Rath, dieses zu thun, jenes aber nicht zu thun, weil ihm die Gottheit eine Andeutung gäbe; und denen, die ihm folgten, gereichte es zum Nutzen, diejenigen aber, welche ihm nicht folgten, bereuten es.
 
5. Und wer wollte fürwahr nicht zugeben, daß er nicht gewünscht hätte, vor seinen Freunden als ein Narr oder Einfaltspinsel dazustehen? Beides aber würde er gewünscht zu haben scheinen, wenn er sich erst als einen Verkündiger göttlicher Offenbarungen und dann hinterher als einen Betrüger gezeigt hätte! Offenbar nun hätte er derartiges nicht vorhergesagt, wenn er nicht an die Erfüllung desselben fest geglaubt hätte. Wer möchte aber hierin wohl einem andern als einem Gotte Glauben schenken? Wenn er aber den Göttern glaubte, wie hätte er da glauben können, daß es überhaupt keine Götter gebe?
 
6. Aber wahrlich, außerdem that er auch noch Folgendes für seine Freunde. Die nothwendigen Dinge rieth er so zu thun, wie er glaubte, daß sie am besten gethan sein würden; hinsichtlich alles dessen aber, dessen Ausgang unberechenbar war, verwies er sie an das Orakel, um zu fragen, ob sie es unternehmen dürften.
 
7. Auch diejenigen, welche Haus- und Staatsangelegenheiten gut verwalten wollten, könnten, sagte er, der Weissagekunst nicht entbehren, obwohl er so etwas, wie ein Zimmermann, ein Schmied, ein Landmann, ein Beherrscher der Menschen oder einer, der dergleichen Arbeiten zu prüfen versteht, oder ein Rechenkünstler, ein Hausverwalter, oder ein Heerführer zu werden, für erlernbar hielt und glaubte, es könne auch schon durch menschliche Einsicht gewonnen werden.
 
8. Das Wichtigste aber von dem, was dabei in Betracht kommt, das, sagte er, haben die Götter sich selbst vorbehalten und den Menschen nicht offenbart. Denn weder könne der wissen, welcher seinen Acker gut bestellt habe, wer die Früchte einernten werde, noch wisse der, welcher sich ein schönes Haus gebaut habe, wer darin wohnen werde, auch wisse ein Feldherr nicht, ob seine Kriegsführung Heil bringen werde, und der Staatsmann wisse nicht, ob er mit gutem Erfolge an der Spitze des Staates stehe; auch wisse der nicht, welcher ein schönes Weib geheirathet hat, um sich desselben zu erfreuen, ob es ihm dereinst nicht Kummer bereiten werde; auch könne der nicht, welcher zu Verwandten einflußreiche Männer im Staate habe, wissen, ob er nicht gerade durch diese des Staates verlustig gehen könnte.
 
9. Diejenigen aber, welche glaubten, daß nichts von alledem von der Einwirkung der Götter abhängig sei, sondern alles Sache der menschlichen Einsicht sei, hielt er für verrückt; für verrückt aber auch diejenigen, welche Weissagungen in solchen Dingen haben wollten, welche die Götter den Menschen zur Erlernung und zur Beurtheilung übergeben hätten. Wenn z. B. einer fragte, ob es besser sei, einen des Fahrens Kundigen beim Fuhrwerk anzunehmen oder einen Unkundigen, oder ob es besser sei, einen, der das Steuern verstünde auf sein Schiff zu nehmen oder einen, der es nicht verstünde, – ein Solcher, wie auch diejenigen, welche Dinge, die durch Zählen, durch Abmessen oder durch Abwägen man sich aneignen könne, von den Göttern erfragten – alle diese hielt er für Frevler. Er behauptete, daß man alles das, was uns die Götter zur Erlernung und zur Ausführung gegeben hätten, erlernen müsse; das aber, was den Menschen unergründlich sei, müsse man mit Hilfe der Weissagekunst von den Göttern zu erfragen versuchen, denn die Götter gäben denjenigen Zeichen, welchen sie gnädig seien.
 
10. Aber er verkehrte ja immer vor Aller Augen. Denn des Morgens in der Frühe besuchte er die Säulenhallen Unter solchen Säulengängen spazierte man, um gegen die Sonnenhitze und gegen Unwetter geschützt zu sein, auf und ab. und die Turnplätze, und zur Mittagszeit konnte man ihn dort sehen, und auch zu andern Tageszeiten war er immer da zu finden, wo er mit den Meisten zusammentreffen konnte. Auch sprach er gewöhnlich, und wer wollte, konnte zuhören.
 
11. Aber keiner hatte jemals von Sokrates etwas Gottloses oder Unheiliges gesehen oder gehört. Auch redete er nicht, wie die Meisten, über die Natur des Weltalls, indem er darüber Betrachtungen angestellt hätte, was es mit dem von den Philosophen so genannten Kosmos (Weltall) für eine Bewandtnis habe und nach welchen Naturgesetzen alle Himmelserscheinungen vor sich gehen, sondern er hielt sogar diejenigen, welche über solche Dinge grübelten, für thöricht.
 
12. Und zuerst fragte er dabei, ob sie etwa schon wähnten, in menschlichen Dingen genügend erfahren zu sein und deshalb solche Grübeleien vornähmen, oder ob sie wähnten, das Geziemende zu thun, wenn sie die menschlichen Dinge bei Seite ließen und sich mit göttlichen beschäftigten.
 
13. Er wunderte sich aber, wenn es ihnen nicht klar war, daß es Menschen unmöglich sei, dieses ausfindig zu machen, da ja auch diejenigen, welche sich auf ihre Disputationen über solche Gegenstände sehr viel zu Gute thäten, nicht dieselben Ansichten hätten, sondern wie Wahnsinnige einander gegenüberständen.
 
14. Denn von den Wahnsinnigen fürchteten die einen nicht einmal das Furchtbare, andere hingegen fürchteten sich selbst vor dem nicht Furchtbaren; den einen scheine es gar nichts Schimpfliches zu sein, unter einem Pöbelhaufen beliebiges zu reden und zu thun, wieder andere scheuten sich, auch nur unter die Leute zu gehen; die einen hätten weder vor einem Heiligthum, noch vor einem Altar, noch vor sonst einem göttlichen Dinge ehrfurchtsvolle Scheu; die andern aber verehrten sogar Steine, die ersten besten Holzblöcke Die schlechtesten Götterstatuen von Stein oder Holz. und Thiere. Ebenso scheine nun auch unter denen, welche über die Natur des Weltalls sich den Kopf zerbrechen, den einen das Seiende nur ein einzelnes Ding, den andern hingegen das Seiende etwas der Zahl nach Unendliches zu sein; Daß alles Seiende nur ein Ding sei, lehrten die Eleaten, besonders das Haupt dieser Schule, Xenophanes (um 530 v. Chr.). Platon behandelt diese besonders im »Parmenides«. Daß die Welt aus unzähligen Atomen bestehe, lehrten die Atomisten, besonders Leukippos (um 500 v.Chr.) und sei« Schüler Demokritos. die einen sagten, alles sei in fortwährender Bewegung, andere, es bewege sich gar nichts; die einen glaubten, daß alles entstehe und vergehe, die andern, daß niemals irgend etwas entstanden oder vergangen sei. Meinungen des Herakleitos aus Ephesos (um 500 v. Chr.) einerseits und der Eleaten (Zenon um 460 v. Chr.) andererseits.
 
15. Er fragte über sie auch das, ob sich etwa, wie die, welche menschliche Weisheit lernten, das Gelernte im eigenen Interesse oder im Interesse eines beliebigen andern im Leben zu verwerthen beabsichtigten, ebenso auch diejenigen, welche über göttliche Dinge nachdächten, der Hoffnung hingäben, einmal, wenn sie erkannt hätten, welche Naturgesetze alles beherrschten, nach eigenem Gutdünken Winde, Regen, Jahreszeiten und was sie sonst von derartigen Dingen bedürften, machen zu können? Oder ob sie derartiges nicht einmal erhofften, sondern damit zufrieden wären, darüber, was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis habe, nur eine Meinung gewonnen zu haben.
 
16. Das war seine Ansicht von Leuten, welche sich mit solchen Dingen beschäftigten. Er selbst aber hätte sich immer über menschliche Dinge unterhalten, indem er betrachtete, was fromm, was gottlos, was schön, was schimpflich, was recht, was unrecht sei; was Besonnenheit und Keckheit, Tapferkeit und Feigheit sei; wie ein Staat und ein Staatsmann, wie Regierte und Regent sein müßten und anderes dergleichen, das, wie er überzeugt war, einen jeden, der es weiß, zu einem guten und tüchtigen Menschen macht, den aber, welcher es nicht weiß, mit vollem Rechte zu einem Knechte herabwürdigt.
 
17. Es ist demnach nicht zu verwundern, daß seine Richter in diesen Dingen, über welche seine Ansichten unbekannt waren, verkehrt über ihn urtheilten; aber sehr zu verwundern ist es, daß sie darauf nicht Rücksicht nahmen, was allen bekannt war.
 
18. Als er nämlich einmal Senator war und den verlangten Eid geschworen hatte, in welchem auch stand, nach den Gesetzen einen Rath geben zu wollen, da wollte das Volk gerade zu der Zeit, wo er Vorsteher im Demos war, gegen die Gesetze neun Feldherrn, zu welchen Thrasyllos und Erasinides gehörten, durch eine Gesammtabstimmung zum Tode verurtheilen. Sie wurden deshalb verurtheilt, weil sie nach der Schlacht bei den Arginusen (406 v. Chr.), obwohl durch einen Sturm daran gehindert, die Gefallenen nicht beerdigt hatten. Dieser Abstimmung widersetzte er sich, obwohl das Volk ihm zürnte und viele Mächtige ihm drohten; aber er hielt seinen Eid für höher, als gegen Gesetz und Recht dem Volke zu willfahren und sich vor den Drohenden in Acht zu nehmen.
 
19. Und er war überzeugt, daß die Götter für die Menschen sorgten, aber nicht in der Weise, wie der große Haufe glaubt; denn dieser glaubt, die Götter wüßten manches, manches aber wieder nicht. Sokrates aber glaubte, die Götter wüßten alles, sowohl Reden als Werke, als auch das, was heimlich ausgesonnen wird; ferner, daß sie allgegenwärtig seien und den Menschen in allen menschlichen Angelegenheiten Zeichen geben.
 
20. Ich wundere mich also, wie in aller Welt die Athener sich haben überreden lassen, daß Sokrates in Betreff der Götter verkehrte Ansichten gehabt habe, da er doch niemals gegen die Götter etwas Frevelhaftes gesagt oder gethan hat, vielmehr nur so geredet und gehandelt hat, wie einer reden und handeln muß, welcher als der Gottesfürchtigste anerkannt wird.

Xenophon's Erinnerungen an Sokrates

Vorwort.
 
Schon seit alter Zeit hat man darüber gestritten, ob Xenophon oder Platon das historisch treuere und erschöpfendere Bild von Sokrates entworfen habe, und welcher von beiden als Quelle der Philosophie des Sokrates anzusehen sei. Diese Frage hat sich mehr und mehr zu Gunsten Xenophon's entschieden, der uns in seinen Erinnerungen an Sokrates ein treues Bild von Sokrates Lehre und Persönlichkeit gegeben hat. Er hat nur Thatsächliches und Selbsterlebtes zuverlässig berichtet, und er besaß die geistige Befähigung, einen Mann wie Sokrates zu verstehen, um dessen Lehre in ihren Grundzügen richtig darzustellen. Dafür bürgt uns die Thatsache, daß Sokrates mit ihm mehrere Jahre hindurch einen näheren Umgang unterhalten hat.
 
Daß ich bei der vorliegenden Übersetzung alle mir nur irgend zugängliche Litteratur benutzt habe, versteht sich von selbst. Meiner Übersetzung habe ich die erklärende Ausgabe des um die Kritik und Erklärung Xenophon's hochverdienten Ludwig Breitenbach zu Grunde gelegt, (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, fünfte Auflage 1878). Manche Belehrung habe ich aus seinen trefflichen Anmerkungen geschöpft, was dankbar anzuerkennen ich für meine Pflicht halte. Auch die erklärende Schulausgabe von Dr. Rafael Kühner (vierte Auflage, besorgt von Dr. Rudolf Kühner, Leipzig 1882) habe ich an manchen Stellen benutzt. Von den existierenden Übersetzungen habe ich die von Neide, Finckh und Zeising gebührend berücksichtigt.
 
Was zum Verständnis des Einzelnen nöthig war, habe ich in kurzen Anmerkungen, die sich am Ende der Uebersetzung befinden, beigefügt. In Betreff der Uebersetzung selbst habe ich mich so viel als möglich, ohne der deutschen Sprache Gewalt anthun zu wollen, an das Original angeschlossen.
 
Eine Einleitung über Xenophon's Leben und Werke voranzuschicken, hielt ich für überflüssig, da eine solche sich in der Uebersetzung der Xenophontischen Anabasis (Universal-Bibl. No. 1185 und 1186) befindet, auf die ich hiermit verweise.
 
Möge diese Uebersetzung, an der ich mit Lust und Liebe gearbeitet habe, und der ich dies Geleitswort aus dem meerbespülten und waldumrauschten Ahlbeck mitgebe, den Beifall competenter Beurtheiler sich erwerben.
 
Ahlbeck auf Usedom, den 22. Juli 1883.
 
Otto Güthling.

Montag, 11. Mai 2009

"Von vorne bis hinten Murks"

 
20. April 2009, 00:00 Uhr
ANTI-BACHELOR
Marius Reiser will nicht länger Hochschullehrer sein. Aus Protest gegen Bachelor und Master hat er seine Professur aufgegeben. Im Interview erklärt der Mainzer Theologe, warum er die "Abschaffung der Universität" nahen sieht - und was Mahatma Gandhi damit zu tun hat.
 
UniSPIEGEL: Professor Reiser, fehlt es den deutschen Hochschullehrern an Courage?
 
Reiser: Ja, ohne Zweifel. Sie lassen sich Dinge gefallen, die sie sich nicht gefallen lassen müssten. Sie sehen einfach widerstandslos zu, wie mit dem Diplom ohne Not ein Studienabschluss abgeschafft wird, um den wir weltweit beneidet werden. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
 

UniSPIEGEL: Sie klingen, als ginge es um den Untergang des Abendlands, nicht um die Reform von Studiengängen.
 
Reiser: Es geht um die Abschaffung der Universität.
 
UniSPIEGEL: Übertreiben Sie da nicht etwas?
 
Reiser: Nicht im Geringsten. Wenn man all das abschafft, was eine Universität ausmacht, dann schafft man die Universität selbst ab. Die Universität war bisher autonom, und ihr Ziel hieß Bildung. Jetzt wird sie abhängig von den Vorgaben der Wirtschaft. Es geht nicht mehr um Bildung, sondern nur noch um Ausbildung. Der Student kann nicht mehr selbst wählen, welche Schwerpunkte er im Studium setzen will, sondern er bekommt, wie in der Schule, alle Inhalte haarklein vorgeschrieben und in einen engen Stundenplan gepresst. Das ist das Ende der akademischen Freiheit. Daran will ich mich nicht beteiligen.
 
UniSPIEGEL: Die Umstellung auf Bachelor und Master soll Studienabschlüsse europaweit vergleichbar machen und den Uni-Wechsel im Studium erleichtern. Das sind doch hehre Ziele.
 
Reiser: Die stehen aber nur auf dem Papier. Wenn man wirklich vergleichbare Abschlüsse haben wollte, müsste man alle Universitäten gleich gestalten. Alle müssten die gleichen Disziplinen und die gleiche Personalausstattung haben, überall müssten die genau gleichen, langweiligen Inhalte gelehrt werden. Eine furchtbare Vorstellung! Und Universitätswechsel werden durch den Bachelor-Studiengang sogar noch erschwert, weil die Stundenpläne so starr und eng sind. Viele Studierende werden sich angesichts des großen Pflichtprogramms gar nicht mehr trauen, während des Studiums ins Ausland zu wechseln.
 
UniSPIEGEL: Gerade die Diplom-Studiengänge, die Sie retten wollen, sind aber heute oft schon stark verschult.
 
Reiser: Sie sind es vor allem an den Fachhochschulen. Dort ist das ja auch in Ordnung. Aber doch bitte nicht an den Universitäten, wo eine Bildungselite an die Wissenschaft herangeführt werden soll. Wissenschaft heißt, selbständig denken, argumentieren und urteilen zu lernen, nicht, vorgegebenen Lernstoff für Prüfungen zu pauken.
 
UniSPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass kluge Studenten es auch künftig schaffen werden, links und rechts des vorgeschriebenen Lehrstoffs interessante Inhalte aufzuspüren?
 
Reiser: Es wird viel, viel schwerer. Denn es soll ja auch ständig Prüfungen geben, in denen der Stoff gleich wieder abgefragt wird. Dadurch entsteht übrigens auch für die Hochschullehrer ein riesiger Verwaltungs- und Korrekturaufwand. Mir persönlich bliebe in einem solchen System kaum noch Zeit für gründliche Forschung.
 
UniSPIEGEL: Wovon wollen Sie, nach 18 Jahren an der Hochschule, künftig leben?
 
Reiser: Ich bin ein genügsamer Mensch, ich habe kein Auto und keinen Fernseher. Ich werde die Zeit nutzen, um ein Buch zu überarbeiten, und hoffe, dass ich den einen oder anderen Vortrag halten kann.
 
UniSPIEGEL: Enttäuscht es Sie, dass keiner Ihrer Kollegen Ihrem Weg gefolgt ist?
 
Reiser: Nein, das würde ich von niemandem verlangen. Viele, die positiv auf meine Ankündigung reagiert haben, müssen eine Familie ernähren oder haben andere Verpflichtungen. Unverständlich ist mir aber, dass etliche Kollegen nicht einmal den Widerstand leisten, den sie ohne jedes Risiko leisten könnten. Wenn früher die Aufforderung kam, eine kurzfristige Stellungnahme zu Studiengängen oder Prüfungsordnungen abzugeben, hat der Dekan zurückgeschrieben, wir brauchten dafür Zeit und würden Bescheid geben, wenn wir fertig sind. Damit hätte man auch die unsinnigen neuen Verordnungen für lange Zeit auf Eis legen können. Stattdessen aber wird heute allen Aufforderungen sofort gehorsam Folge geleistet.
 
UniSPIEGEL: Sie haben die Studierenden aufgerufen, sich zu wehren, und an Mahatma Gandhi erinnert. Ging es nicht auch eine Nummer kleiner?
 
Reiser: Gandhi habe ich nur wegen der Methoden erwähnt, mit denen ein demokratischer Widerstand möglich wäre. Die Studierenden erkennen langsam selbst, was auf sie zukommt und dass sie zu einem Studienabschluss gezwungen werden, mit dem sie später kaum etwas anfangen können. Mit einem Bachelor können sie ja nicht einmal Grundschullehrer werden!
 
UniSPIEGEL: Mit Ihrem Ausscheiden aus der Universität geben Sie aber auch die Chance auf, die Schwächen des Systems zum Wohle Ihrer Studenten auszugleichen.
 
Reiser: Zu verbessern gibt es da nichts. Das System ist von vorne bis hinten Murks. Wenn man wenigstens erst einen Modellversuch gemacht und das System an ausgesuchten Hochschulen ein paar Jahre lang erprobt hätte, dann hätte man schon gemerkt, dass es nicht funktioniert. Aber nicht einmal das ist passiert. Nun wird eine komplette Studentengeneration das absehbare Chaos ausbaden müssen. Ich habe mich entschieden, da nicht mitzumachen.
 
Interview: Matthias Bartsch
 
 
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Donnerstag, 7. Mai 2009

Johannes Hirschberger

Johannes Hirschberger                                                                  Herder / Spektrum 1992

 

 

Die Sophistik

 

Die Sophisten bieten allerdings sogleich auch wieder den Beleg dafür, wie gefährlich das Instrument des menschlichen Geistes sein kann. Der menschliche Geist vermag nämlich vieles, was sich als glänzende Tugend geben dabei aber glänzendes Laster sein kann. Das zu durchschauen, erfordert selbst wieder nicht bloß Geist, Sondern Reife des Geistes.

Die Sophistik entsteht zu einer Zeit, in der Griechenland sich anschickt, Großmachtpolitik zu treiben. Zu so etwas braucht man Könner. Die Sophisten boten sich an, solche Könner auszubilden.

Sie versprachen die Aretè zu lehren. Übersetzt man diesen Ausdruck wörtlich mit Tugend und versteht Tugend im herkömmlichen Sinn, dann kommt genau das Gegenteil von dem heraus, was gemeint war.

Aretè heißt nämlich im Munde der Sophisten nur Tüchtigkeit. Und diese Tüchtigkeit war nicht wählerisch. Es war eine Tüchtigkeit, die zu allem fähig war (panurgia), wie Platon treffend dafür gesagt hat. Hauptsache war den Sophisten dabei die Rhetorik, die Kunst, sprechen schreiben und auftreten zu können. Das gerade braucht ja der politische Führer. Und da hatten sie nun gefährliche Grundsätze. Man müsse verstehen, etwas zu werden, der Erste zu sein, Macht zu erwerben und zu behalten, sich durchzusetzen, das Leben zu meistern und es zu genießen. Dafür war dann alles recht — und daher ihr Grundsatz, der tüchtige Redner müsse fähig sein, die schlechtere Sache zur stärkeren zu machen, nicht durch die Erhellung der Wahrheit, sondern einfach durch Überredung. Daher Platons ständiger Tadel: Euch geht es überhaupt nicht um die Sache oder um die Wahrheit oder um das Recht, euch geht es nur um die Macht, und im Grunde seid ihr ohne jede Einsicht in die Wahrheit und die Werte des Menschen — und darum seid ihr nicht Führer, sondern Verführer.

Dafür besaßen die Sophisten auch die entsprechende Weltanschauung, einen allgemeinen Relativismus: Es gibt keine Wahrheit und gäbe es eine, dann könnte man sie nicht erkennen, und konnte man sie erkennen, wäre sie nicht mitteilbar, wie Gorgias (483—375) zu sagen pflegte. Oder wie einer ihrer bekanntesten meinte, Protagoras (ca. 481—411), alles sei relativ, subjektiv, je nach dem Dafür halten des einzelnen: „Wie etwas mir erscheint, ist es für mich, wie dir, so ist es für dich." Darum steht nichts mehr dem Menschen gegenüber weder objektive Sachverhalte noch ein ewiges Recht, noch ewige Götter, sondern „der Mensch ist das Maß aller Dinge" (Protagoras). Die Sophisten bemühten sich, auf alle Weise zu zeigen, wie relativ die Satzungen des Rechtes, der Sittlichkeit oder der Religion seien. Nichts sei hier „von Natur", d.h. ewig gültig, sondern alles sei nur durch menschliche „Satzung" und Übereinkunft so geworden. Und auch für ihre Machtideologie suchten sie nach einem philosophischen Mäntelchen. Es sei das Gesetz der Natur, so meinten sie, daß der Stärkere über den Schwachen herrsche. Das war hier das „Naturrecht". Bei Nietzsche und Hobbes wird es später wieder aufleben. Und auch im Soziologismus der Gegenwart, in dem die Soziologie als Wissenschaft zur Ideologie entartet ist, erlebt die Sophistik eine Wiederkehr: hier wie dort gibt es keine bleibenden Wahrheiten und Werte, sondern man orientiert sich an dem bloß Faktischen, das Zeitgeist, Willkür, Macht und Geschichte uns zuspielen, und rechtfertigt es dann, genauer propagiert es, durch eine journalistische Dialektik, die das kritische Denken verdirbt bis hinein in Pädagogik, Justiz und Politik, was ja immer schon der Tummelplatz der Sophisten gewesen war.

Daß die vielberedete Relativität nicht die sittlichen Werte selbst betraf, sondern nur das menschliche Bewusstsein von diesen Werten, nicht die objektive Geltung, sondern nur die geschichtliche Ausdrucksform, diese tiefere Einsicht war ihnen nicht aufgegangen Und auch nicht die andere Unterscheidung daß ihr „natürliches Recht"

nur natürliche Begehrlichkeit ist, wie Thomas Hobbes dieselbe Sache sehr viel später richtig nennen wird. Aber es hat einen Mann gegeben der ihnen ihre Wertblindheit genau vorrechnete, Platon.

Alle seine Jugendschriften sind gegen die Sophisten gerichtet. Das witzigste Argument dabei war sein Wort vom Lügner und vom Dieb. Platon sagte nämlich, man müsse den Grundsatz, daß es nur auf das Können allein und als solches ankomme, einmal richtig durchdenken. Wenn es wirklich so ist, dann ist der Lügner „besser", weil „tüchtiger" als der, der die Wahrheit spricht denn er überrundet ihn ja; und ebenso ist dann der Dieb „besser" als der Wächter, denn er „kann" ja noch mehr, weil er ihn überlistet. Mit dem Können allein ist es also nicht getan.

Aber das wird oft nicht recht durchschaut. Die Kunst des schönen Sprechens und Schreibens, also das humanistische Ideal der nur formalen Bildung, wird immer Gefallen finden. Auch da kann Sophistik noch am Werke sein. Für diese Leute hat Platon umsonst geschrieben, soviel Kluges sie auch über ihn zu sagen wissen. Sie sind daher in seinen Augen nur Liebhaber des Wortes (philologoi), aber nicht des Gedankens und seiner Weisheit (philosophoi) weil die Reife des Geistes fehlt, sein Wahrheitsbewußtsein und das Wertgefühl der sittlichen Vernunft. Es gibt eine ewige Sophistik die immer den Schein mehr heben wird als das Sein. Alle Leistung wird immer blenden. Wenn man aber das Können des Menschen, sei es nun Wissen oder Willensmacht, nicht unter sittliche Wertprinzipien stellt und davon leiten lässt, dann hat das seine Konsequenzen. In einer die an Leistung und Macht allein orientiert ist, wird der Egoismus zur Notwendigkeit werden. Man kann ihn dann maskieren, kann die Lüge Propaganda heißen und den Diebstahl Gemeinwohl aber bei der Tatsache der bloßen Macht wird es bleiben. Wer ihre Vorteile genießen will, wird dann auf immer abhängen von der höchstmöglichen Raffinesse jener routinierten Könner, die zu allem fähig sind.

 

 

Der Staat

 

Platon hat unter diesem Gesichtspunkt seine Staatsformen gefunden. Wenn ein Staat von den geistig und sittlich Besten geleitet wird, dann handelt es sich um eine Aristokratie; ist der Leiter nur einer von diesen Besten, dann um eine Monarchie. Herrschen nicht mehr die wirklich Besten, sondern die Ehrsüchtigen, die sich für wertvoll halten, weil sie Mut und Entschlossenheit haben, gute Jäger, Sportler und Soldaten sind, tatkräftige Praktiker, schlaue Taktiker und findige Karrieremacher, dann handelt es sich um eine Timokratie.

Diese Männer haben schon wieder Privateigentum und bereichern sich insgeheim. Sie dienen weniger dem Ganzen und der Sache als ihrem subjektiven Geltungstrieb. Greift das Sich-Bereichern noch mehr um sich und herrscht nur noch eine Gruppe von einigen Reichen, die nichts anderes im Auge haben als materielle Wirtschaftsmacht und eigenen Vorteil, immer bereit, diesen Dingen die höheren menschlichen 'Werte unterzuordnen, dann haben wir eine Oligarchie vor uns. Von den drei Seelenteilen Vernunft (Aristokratie), Mut (Timokratie) hat jetzt der dritte, die BegierdeseeIe sich in den Vordergrund gespielt. Beherrscht er aber überhaupt das Feld, so daß jeder Staatsbürger „weder Ordnung noch Pflichtenzwang kennt,

sondern nach Lust und Laune in den Tag hinein lebt und das ein

liebliches, freies und seliges Leben heißt" (Staat 561), so haben wir

es mit der Demokratie zu tun. Das Maß der mehr oder weniger großen Annäherung an das ideal von Ordnung und Recht ging hier, so meint Platon, gänzlich verloren, weil man überhaupt nicht mehr an Wahrheit und Recht an sich glaubt sondern nur sein subjektives Begehren kennt, mit dem man dann alles Weitere der gesellschaftlichen Verhältnisse aushandelt. Deswegen sind jetzt auch alle gleich.

Allem Anschein nach eine reizende Staatsverfassung, herrschaftslos,

buntscheckig, so etwas wie Gleichheit gleichmäßig, an Gleiche und

Ungleiche verteilend (Staat 558). Die äußerste Entartung aber besteht in der Tyrannis. Wenn die Freiheit zur totalen Zügellosigkeit geworden ist, schlägt sie in ihr Gegenteil um. „Das Übermaß im Vorwärtstreiben der Dinge pflegt den Umschlag ins Gegenteil als Rückschlag zur Folge zu haben, in der Witterung, im Wachstum

der Pflanzen und Leiber und nicht zum wenigsten auch in den Verfassungen." In den inneren Auseinandersetzungen des allgemeinen Mehrhaben-Wollens braucht das Volk Führer. Und weil es die Gewohnheit hat, „immer einen im Vorzug vor den anderen an die Spitze zu stellen und ihn zu hätscheln und allrnächtig zu machen",

kann es dazu kommen, daß ein solcher Volksführer, wenn er einmal das Blut des Machtbesitzes geleckt hat, dem Macht- und Größenwahn verfällt und nun alles tut, an der Macht bleiben zu können.

Er wird alles Recht aufheben, das Volk seinen Knechten, wird diese Knechte anderen Knechten ausliefern, bis „endlich das Volk erkennt, welchen Unhold es sich erzeugt und großgezogen hat". Und jetzt sieht man, was Tyrannei ist: Sklaverei unter Sklaven. Nicht nur das Volk ist Sklave, auch seine Zwingherrn sind es und schließlich der Tyrann selbst. Er ist Sklave seiner eigenen Leidenschaften, für den Philosophen eines auf Vernunft und Wahrheit, Freiheit und sittlichem Wollen beruhenden Menschentums verkörpert er die Staatsform der äußersten Greuel.

Sonntag, 15. März 2009

Wie Mensch und Tier denken

Der Mensch hält sich für das am höchsten entwickelte Lebewesen. Zurecht? In einem edition-unseld-Essay lotet der Philosoph Reinhardt Brandt aus, was Denken, Kommunikation und Urteilen auszeichnet. Auf die Frage, ob Tiere denken können, findet er eine klare Antwort. Man rechnet im Alltagsverständnis und in der Biologie mit Zuständen und Fähigkeiten von Tieren, die nicht nur körperlich-materiell sind wie die Eigenschaften der Steine und Billardkugeln oder vegetativ wie die der Pflanzen; Tiere haben nach einem allgemeinen Urteil oder Vorurteil über diese Eigenschaften hinaus ein ihren individuellen Bewegungen angepasstes Wahrnehmungssystem, sie äußern Lust- und Schmerzempfindungen und können verzweifelt sein, sie träumen offenbar wie wir, es gibt kluge und dumme Individuen in bestimmten Gattungen, Tiere sind zerstreut oder konzentriert, sie leben in einer Medienwelt, senden und empfangen Zeichen und verbinden diese miteinander, sie basteln einfachste Werkzeuge, werden wütend, wenn ihnen etwas misslingt, sie bilden Hierarchien in ihren jeweiligen Sozietäten, sie streiten und versöhnen sich, sind stolz und unterwürfig, sie haben ein diesen Fähigkeiten entsprechendes Bewusstsein und Selbstbewusstsein; die Tierpsychologie wird heute ergänzt durch die Psychotherapie von Tieren. Über die genannten Fähigkeiten verfügt auch der Mensch. Gehört jedoch zu den mentalen oder psychischen Kompetenzen irgendwelcher Tiere auch das Denken? Wir kennen das Denken als eine von uns ausgeübte mentale Tätigkeit; von ihr fordern wir, dass sie dazu in der Lage ist, Urteile mit drei Eigenschaften zu bilden: Sie müssen sich auf etwas Urteilexternes beziehen können, entweder bejahen oder verneinen, und sie müssen wahr oder falsch sein können. Diese drei Bedingungen werden unter anderem verwirklicht in der formalen Struktur "S ist / ist nicht P", "Der Hut ist / ist nicht dreieckig". Das Prädikat "dreieckig" bezieht sich nicht auf das Wort "Hut", sondern auf ein bestimmtes, durch "Hut" bezeichnetes Ding im Raum. Hätte das Urteil nicht diese deiktische Funktion, könnte allenfalls der Satz: "Hut hat 3 Buchstaben" wahr oder falsch sein; daran delektierten sich griechische Müßiggänger und Sophisten, aber sonst kaum jemand. Das Urteil also zeigt imaginativ auf etwas, das außerhalb seiner selbst liegt. In der Aussage werden nicht Zeichen aneinandergefügt wie in den uns bekannten Lautsequenzen der Tiere, sondern Symbole so vereint, dass ihre formale Einheit auch dann besteht, wenn die inhaltliche Trennung behauptet wird.. Wenn ich sage: "Tiere können denken", dann muss ich komplementär denken oder sagen können: "Tiere können nicht denken"; das bedeutet aber, dass es eine formale Urteilseinheit gibt, die auch dann besteht, wenn die Inhalte (Tiere, Denken) getrennt werden. Die Griechen hatten in ihrer nur teilweise berechtigten Arroganz gegenüber den anderen Nationen den Verdacht, dass diese zum Denken und zur Urteilsbildung nicht in der Lage seien, sondern nur Lautzeichen (vielleicht nach bestimmten grammatischen Regeln) addieren könnten: Barbarbara (barbaroi). Es gibt jedoch keine menschliche Sprache, die nicht (wie immer geordnet) die logische Elementarform enthielte; jeder Sprecher also kennt und benutzt sie, auch wenn er sie nicht zum Gegenstand seiner Überlegung macht. Neben dem Denken in Urteilsform gibt es andere kognitive Leistungen wie die gesteuerte oder unwillkürliche Imagination von Bildern, die Erinnerung, die Assoziation von Vorstellungen oder intentionale Akte wie die Absicht, jetzt aufzustehen; sie sollen nur zum Denken zählen, wenn sich die Urteilsform in ihnen nachweisen lässt. Es ist gegen diese Überlegung eingewandt worden, das Denken vollziehe sich doch subjektiv ganz anders als in der hier künstlich herausgestellten Urteilsform; der Mensch habe perfekt gedacht, bevor Aristoteles seine Urteils- und Schlusslehre entwickelt habe. Die Antwort: Der Einwand wird wie jeder andere Einwand gedacht und geäußert; er hat nicht zufällig, sondern notwendig die angegebene Urteilsform. Er ist prinzipiell in jede andere menschliche Sprache übersetzbar. Im Zentrum des ersten Teils der Untersuchung steht die genaue Analyse der universellen Urteilsform und ihrer für das Thema relevanten Voraussetzungen und Implikationen. Es lässt sich plausibel machen, dass die gesamte menschliche Welterfassung und Kultur an der Urteils- und Mathematikfähigkeit des Menschen hängt, dass sogar die eine gemeinsame öffentliche Welt eine ideelle Kreation der im Zeigen und Urteilen vereinten Aufmerksamkeit der Menschen ist. Tiere nehmen, so weit wir erkennen, an dieser Welt nicht teil als Subjekte, sondern bleiben Objekte unserer Erkenntnisse, so weit sie uns in anderen körperlichen und psychischen Fähigkeiten auch überlegen sind. Das Hauptstück der Untersuchung ist der Titelfrage gewidmet: Können Tiere denken? Vermutlich können sie es nicht. Den Tieren fehlen elementare Voraussetzungen oder wenigstens Vorformen des Urteils wie zum Beispiel die Fähigkeit, als Individuum die Aufmerksamkeit von anderen durch den Akt des Zeigens auf einen bestimmten, nur optisch wahrnehmbaren Gegenstand oder Sachverhalt zu lenken. Das auf etwas Entferntes referierende, blickbegleitete Zeigen geschieht mit der Hand, dem "Organ der Organe", oder dem Arm, nicht aber mit dem Rumpf oder den Beinen oder dem Kopf. Die übrigen mit Armen und Händen ausgestatteten Primaten hätten problemlos die physische Möglichkeit, diese für uns Menschen ganz einfache Handlung zu vollziehen; sie tun es jedoch nie und können es, wiewohl im Besitz der dazu nötigen Glieder, auch nicht lernen. Es wird auch nie außer vielleicht in Märchen berichtet, ein Elefant habe mit seinem physisch dazu geeigneten Rüssel auf etwas gezeigt, zum Beispiel auf einen besonders schönen Tempel oder den aufgehenden Mond. Es gibt bei den Tieren auch kein irgendwie geartetes Surrogat für das Zeigen, das den gleichen epistemischen und öffentlichen Effekt hätte. Die Sachverhalte nun, auf die wir die Aufmerksamkeit anderer nicht durch den Blick und die Hand, sondern durch sprachliche Urteile lenken, teilen mit den gestisch gezeigten Gegenständen die Eigentümlichkeit, dass sie entfernt sein können und dass sie nicht unsere unmittelbaren Lebensinteressen betreffen müssen, beim Urteil braucht es sie nicht einmal zu geben, sei es jetzt oder überhaupt. Worüber wir urteilen, ist dem Urteil selbst so extern wie der Gegenstand des Zeigens, er ist davon im wörtlichen Sinn nicht berührt (im Gegensatz zu Gebrauchshandlungen, die sich auf den Gegenstand beziehen). Die zeigende oder urteilende Person, zweitens der Adressat oder die Adressaten, und drittens der Gegenstand, um den es geht, sind drei Elemente, die einen Raum der Öffentlichkeit aufspannen, den die Tiere nicht betreten. Der Gegenstand, auf den hingezeigt wird, ist dadurch öffentliches Objekt einer interessierten oder auch interesselosen Neugier. Nicht nur das Zeigen fehlt den Tieren, sondern auch die Neugier, speziell gibt es keine tierischen Handlungen, die sich nur als Suche nach Ursachen erklären lassen; das aufgeweckte Kind dagegen blickt und zeigt auf etwas, auf das auch die anderen sehen oder hören sollen, und es sucht zweitens nach der Ursache eines Geschehens. Wenn Kausalität im Verhalten von Tieren eine Rolle spielt, dann immer bezogen auf das eigene körperliche Tun; Tiere können Hebel bewegen und dadurch die (vielleicht nur durch assoziierte Zeichen wie ein Klingelgeräusch vermittelte) Freigabe von Futter bewirken; aber keine der selbstbezogenen, von uns kausal genannten Tätigkeiten berechtigt zu der Vorstellung, Tiere hätten einen Begriff von kausalen Zusammenhängen. Ja oder Nein? Der Mensch kann entscheiden. Der sprachliche Ausdruck der interessierten oder interesselosen Neugier ist die Frage. Sie ist strukturell möglich durch die vorgegebene Urteilsform, "Ist S P oder nicht?" "Können Tiere denken?" Jedes Urteil lässt sich als Antwort auf eine Frage fassen, und auf die Nachfrage folgt konsequent auch die Begründung, das Warum des Urteils. Bei dieser genetischen Ableitung der Urteilsform versuchen wir, die Integration der Verneinung in das ursprünglich nur bejahende Urteil als Produkt der korrigierenden Intervention oder Frage einer oder mehrerer anderer Personen zu interpretieren, so dass die Urteilseinheit von Bejahung oder Verneinung als Synthese einer dialogischen Situation erscheint. Zweitens: Wenn es so etwa gibt wie mentale Freiheit, sollte man sie vielleicht nicht im Willen suchen, sondern in der kontrollierbaren geistigen Möglichkeit der Überlegung von bejahenden oder verneinenden Antworten auf Fragen. Tiere können auf nichts zeigen, sie sind partout nicht neugierig, speziell nicht kausal neugierig, und es lässt sich bei ihnen keine Kommunikation beobachten, die die Struktur von Urteilen hätte, es bleibt immer bei einer nur additiven, vielleicht grammatisch geordneten Sequenz von positiven Zeichen, die keine Möglichkeit bietet, in eine Frage oder Negation umgeformt zu werden. Zeigen, Neugierigsein und Urteilen oder Fragen kann den klügsten Tieren auch durch die härteste oder einfühlsamste Dressur nicht beigebracht werden. Wenn Elterntiere ihre Jungen zum Beispiel in der Technik des Jagens unterweisen, dann machen sie es vor und halten auch die Jungen zum eigenen Tun an; aber sie zeigen nicht auf Objekte der Fernsinne, sie weisen auf keine Ursachen und stellen ihnen keine vernünftigen oder unvernünftigen Fragen. Umgekehrt haben isolierte taubstumme Menschen spontan eine Zeichensprache entwickelt, die sprachliche Urteilsakte der Form "S ist / ist nicht P" enthält; etwas Derartiges ist bei Tieren nie beobachtet worden. Wenn es somit höchst unwahrscheinlich ist, dass Tiere über das uns geläufige Urteilsdenken verfügen, dann lautet die Folgerung für die einschlägige Forschung, nach der mentalen Ausstattung zu suchen, die die oben genannten kognitiven oder mentalen Leistungen ohne Urteilsdenken ermöglicht, besonders dann, wenn sie denk- oder urteilsähnlich sind, wenn etwa Tiere uns oder andere Tiere zu täuschen scheinen. Aber hiermit ist bereits das Gebiet der biologischen Detailforschung betreten.

 

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,612719,00.html

Dienstag, 10. März 2009

Sokrates

Sokrates. Da die unentbehrlichsten Geschäfte der Menschen größtentheils unter freyem Himmel verrichtet werden müssen, wie z. B. der Kriegsdienst, der Ackerbau, und eine Menge anderer Arbeiten und Beschäftigungen des gemeinen Lebens, dünkt dich nicht, es sey eine sehr große Nachlässigkeit, daß so Wenige sich üben, ihren Körper gegen Frost und Hitze abzuhärten?

Aristippos. Allerdings.

Sokrates. Ein künftiger Regent oder Befehlshaber wird also auch zu dieser Art von Uebung angehalten werden müssen?

Aristippos. O ganz gewiß muß er das.

Sokrates. Wenn wir denn also darüber einig sind, daß nur solche, die in allen besagten Dingen eine völlige Gewalt über sich selbst erlangt haben, für regierungsfähig zu achten sind, werden wir nicht alle, die es nicht so weit gebracht, mit denen, die an Staatsverwaltung ganz und gar keinen Anspruch machen, noch zu machen haben, in Eine Klasse stellen müssen?

Aristippos. Unstreitig.

Sokrates. Nun dann, mein lieber Aristipp, da du beyde Klassen so gut zu stellen weißt, hast du auch schon überlegt, in welche von beyden du dich selbst füglich stellen könnest?

Aristippos. Wenn das alles mir gelten soll, Sokrates, so muß ich dir sagen, daß ich weit entfernt bin, an einen Platz unter denen, die es aufs regieren angelegt haben, Anspruch zu machen. Offenherzig zu reden, ich hege keine große Meinung von dem Verstand eines Menschen, der an der Sorge sich selbst das Nöthige zu verschaffen, wiewohl sie ihm alle Hände voll zu thun giebt, nicht genug hat, sondern sich auch noch mit der Verpflichtung beladet, für die Bedürfnisse der übrigen Staatsbewohner zu sorgen. Ist es nicht die größte Thorheit, um andrer Leute willen sich selbst so manchen Genuß, wozu man Lust hätte, zu entziehen, und da man mit aller Mühe und Arbeit gleichwohl nicht immer alle Wünsche des Publikums befriedigen kann, zu riskieren, daß einem am Ende noch der Prozeß deswegen gemacht wird? Denn, es ist nun einmal nicht anders, das Volk glaubt von seinen Obern alles fordern zu können, was unser einer seinen Sklaven zumuthet. Ich verlange von meinen Leuten, dafür zu sorgen, daß ich mit allem was ich brauche immer reichlich versehen sey, aber daß sie selbst nichts davon anrühren; und gerade so macht es das Volk in Republiken mit seinen Vorstehern; ihm sollen sie alles schaffen was sein Herz gelüstet, aber sie sollen immer reine Hände haben. Meine Meinung von der Sache ist also diese: Wem es darum zu thun ist, recht viel Sorge und Plackerey zu haben, und sich und andern immer was zu thun zu machen, der mag sich dem Staat widmen, und den wollen wir, auf besagte Weise, zum regieren erziehen lassen; ich für meinen Theil stelle mich unter die, welche ihr Leben so gemächlich und angenehm als möglich zuzubringen wünschen.

Sokrates. Nun so wollen wir, wenn's dir gefällig ist, untersuchen, wer angenehmer lebt, die Regierenden, oder die Regierten?

Aristippos. Recht gern.

Sokrates. Gehen wir einmal die bekanntesten Völker durch. In Asien z. B. regieren die Perser; die Syrier, Phrygier und Lydier hingegen werden regiert; in Europa regieren die Skythen, und die Mäoten sind ihnen unterthan; in Lybien (Afrika) regieren die Karchedonier (Karthager) und die Libyer müssen sich von ihnen beherrschen lassen. Welche von diesen leben nun, deiner Meinung nach, angenehmer? Oder, weil du doch auch zu den Griechen gehörst, welche unter den griechischen Völkern scheinen dir angenehmer zu leben, die regierenden, oder die regierten?

Aristippos. Das kann mir gleich viel seyn. Ich, für meine Person, bin Niemandem dienstbar. Mich dünkt, es giebt zwischen beyden noch einen Mittelweg, der weder durch Herrschaft noch Dienstbarkeit, sondern durch Freyheit gerade zur Glückseligkeit führt, und das ist der, den ich zu gehn versuche.

Sokrates. Nun freylich wohl, wenn er, so wie er weder durch die Herrschaft noch die Dienstbarkeit geht, auch nicht durch die Menschen gienge, möchtest du recht haben; da du aber unter Menschen lebst, und doch weder selbst regieren, noch regiert seyn willst, so wirst du, denke ich, bald genug erfahren, daß die Mächtigen es immer in ihrer Gewalt haben, den Schwächern, sowohl in Masse als einzeln, das Leben sauer zu machen und sie dahin zu bringen, daß sie ihnen dienstbar seyn müssen. Oder weißt du nicht, wie wenig Bedenken die Stärkern sich im Kriege darüber machten, die Früchte zu schneiden die der Schwächere gesäet, und die Bäume umzuhauen die er gepflanzt hat, kurz, wie sie ihn, wenn er sich nicht im Guten unterwerfen will, von allen Seiten so lange zu ängstigen wissen, bis sie ihm begreiflich gemacht haben, er thue besser zu dienen, als mit Stärkern als er ist in ofner Fehde zu leben? Und wie könnte dir unbekannt seyn, daß es auch im bürgerlichen Leben nicht anders hergeht, und daß, wer Muth und Vermögen hat, immer Mittel findet den Furchtsamen und Unmächtigen unter sich zu bringen und Vortheil von ihm zu ziehen?

Aristippos. Dafür hab' ich ein gutes Mittel. Eben darum, damit es mir nicht so ergehen könne, schließe ich mich in keinen besondern Staat ein, sondern lebe allenthalben als ein Ausländer.

Sokrates. Das gesteh ich! Da hast du dir eine feine List ausgedacht! Freylich, seitdem Sinnis und Skeiron und Prokrustes todt sind, ist ein Fremder bey uns auf der Landstraße so ziemlich vor ihres gleichen sicher. Indessen sehen wir doch, daß selbst diejenigen, die in ihrem eignen Vaterlande die Ersten im Staate sind, mit allen Vortheilen, die sie vor andern voraus haben, es doch nicht dahin bringen können, sich gegen Beeinträchtigungen sicher zu stellen. Sie lassen es zwar in dieser Absicht an Gesetzen nicht fehlen; sie bewerben sich, außer ihren Geschlechts- und Blutsverwandten, noch um andere Freunde, um einen Anhang zu haben, auf dessen Beystand sie sich im Nothfall verlassen können; sie befestigen ihre Städte, schaffen Vorräthe von Waffen herbey, um auf den Fall eines Angriffs im Vertheidigungsstande zu seyn, und setzen sich über dies noch in auswärtige Verbindungen; - und mit allen diesen Anstalten und Vorkehrungen zu ihrer Sicherheit, sind sie dennoch nicht vor Beleidigung gedeckt. Und du, der du von dem allen nichts hast, einen großen Theil deines Lebens auf den Landstraßen, wo man denn doch noch immer mancherley Beleidigungen ausgesetzt ist, zubringst, und in allen Städten, die du durchwanderst, immer weniger als der geringste Bürger zu bedeuten hast, also gerade so einer bist, über den böse Buben sich am liebsten her machen: du bildest dir ein, vor Beleidigungen sicher zu seyn, weil du ein Fremder bist? Worauf gründest du diese Zuversicht? Etwa darauf, weil dir in allen Städten, wenn du ankommst und wenn du wieder weiter ziehst, öffentliche Sicherheit zugesagt wird? Oder vielleicht auch, weil du denkst, niemand werde eben viel dabey zu gewinnen glauben, wenn er dich zum Sklaven bekäme? Ich weiß nicht ob man einem Menschen, der etwas besser als der unterste unter allen ist, etwas härteres und zugleich gröberes sagen kann, als was Xenofon den Sokrates hier dem armen Aristipp ins Gesicht sagen läßt. - Beynahe sollte man denken, Sokrates habe ihm das zuvorerwähnte Privilegium eines Bürgers (zumal eines Athenischen) sich alles gegen einen Fremden zu erlauben, sogleich in einer kleinen Probe fühlbar machen wollen; und Aristipp erscheint, durch die gute Art, wie er diese attische Urbanität, aus Ehrerbietung, von dem alten Sokrates erträgt (vermuthlich gegen Xenofons Absicht) in einem vortheilhaften Lichte. - Das Beleidigende dieses Kompliments wird durch den ironischen Ton der ganzen Rede, und der Frage: oder wie machst es du? noch salzigter und sogar bitter. So viel kann doch wohl Sokrates sich über Aristipp, der nicht etwa ein armer Schlucker, sondern ein Fremder von gutem Hause und Vermögen war, nicht herausgenommen haben, wenn er ihn im Ernste gewinnen wollte? Auch diese Stelle wird also auf Xenofons Rechnung kommen müssen, und der Behauptung des Diogenes zu keinem sehr starken Belege, oder doch wenigstens zu keinem Beyspiel, wie schonend Xenofon den Aristipp behandelt habe, dienen können.

  Und in der That, wer möchte einen Menschen gern in seinem Hause haben, der nichts arbeiten wollte und dem nur das köstlichste gut genug wäre? - Wahr ists indessen, daß Hausherren, die solche Sklaven haben, eben nicht sehr verlegen sind, wie sie sich mit ihnen helfen sollen. Den Kitzel vertreiben sie ihnen durch Hunger; damit sie nichts stehlen können, wird alles sorgfältig vor ihnen verschlossen; davon zu laufen, verbietet man ihnen durch Fußschellen, und gegen die Faulheit sind Schläge ein bewährtes Mittel. Oder wie hältst du es mit deinen Sklaven, wenn du einen dieses Gelichters unter ihnen entdecktest?

Aristippos. Ich züchtige ihn ohne Barmherzigkeit so lang und so viel, bis er seine Schuldigkeit thut. Aber, erlaube mir zu fragen, Sokrates, worin sind die jungen Leute, die zu jener königlichen Kunst erzogen werden, in welche du mir die höchste Glückseligkeit zu setzen scheinest, von denen verschieden, die aus Noth elend leben müssen, wenn sie freywillig hungern und dürsten, frieren und den Schlaf sich entziehen? Ich für meinen Theil sehe nicht worin der Unterschied liegen soll, ob das nehmliche Fell freywillig oder unfreywillig durchgegerbt wird, oder ob überhaupt eben derselbe Leib alle diese Peinigungen willig oder gezwungenerweise aushalten muß. Man muß wahnsinnig seyn, um den Willen zu haben sich selbst zu peinigen.

Sokrates. Wie, Aristipp? du siehst hier keinen Unterschied? Er fällt doch, dächte ich, stark genug in die Augen. Wer aus freyem Willen hungert, kann auch essen wenn er will; das ist aber nicht der Fall bey dem Gezwungenen. Ueberdies versüßt sich der erste die gegenwärtige Unlust durch die Hofnung, wie die Jäger der gehofften Beute wegen sich allen Beschwerlichkeiten der Jagd mit Vergnügen unterziehen. Gleichwohl ist der Preis, womit der Jäger sich für seine Mühe belohnt hält, etwas sehr unbedeutendes: Aber wer sich keine Anstrengung dauern läßt um die Freundschaft edler Menschen zu gewinnen, oder um ein braver Kriegsmann und Heerführer zu werden, oder überhaupt seine Leibes- und Gemüthskräfte so zu üben, daß er tüchtig werde seinem Hause wohl vorzustehen, seinen Freunden nützlich zu seyn, und sich um sein Vaterland verdient zu machen: siehst du nicht, daß schon die Mühe selbst, die er sich geben muß, um zu dem allen zu gelangen, ihr Vergnügen mit sich führt, und daß ein fröhliches Gemüth, der Beyfall seines eigenen Herzens und die Hochachtung und Zuneigung anderer Menschen eine reiche Belohnung seiner Arbeiten und Aufopferungen sind? Noch mehr: Leichte, blos zur Kurzweil vorgenommene Beschäftigungen und Genüsse die mit keiner Mühe erkauft werden, können weder dem Körper eine harte und gesunde Beschaffenheit zuwege bringen, wie die Meister der Gymnastik behaupten, noch die Seele mit irgend einer schätzbaren Kenntniß bereichern: angestrengte und ausdaurende Bemühungen hingegen verschaffen uns den Genuß des Besten und führen zu großen und preiswürdigen Dingen. So sagt schon Hesiodos irgendwo:

Zu der Untugend ists leicht auch Schaarenweise zu kommen,

Breit und glatt ist der Weg, und nur zu nahe ihr Wohnsitz;

Aber auf steile, mit saurem Schweiß nur erklimmbare Höhen

Haben die Götter die Tugend gesetzt, langwierig und rauh ist

Anfangs der Weg zu ihr; doch ist erstiegen der Gipfel,

Dann ist er leicht und freundlich zu gehn, so schwierig er erst war.

Auch bezeugt es der Dichter Epicharmos, da er sagt:

                - für Müh und Arbeit

Verkaufen uns die Götter alles Gute.

Und an einem andern Orte:

Du suchst das Glück im Schoos der Weichlichkeit,

Betrogener, Scham und Reue wirst du finden.

Auch der berühmte Prodikos erklärt sich in der Schrift vom Herkules, die er öfters vorzulesen pflegt, über die Tugend auf eben diese Weise, und zwar, so viel ich mich erinnern kann, folgendermaßen. Diese dem Prodikos zugeschriebene allegorische Erzählung von der Wahl des Herkules ist unstreitig eines der schönsten Ueberbleibsel des Alterthums und in ihrer Art eben so schätzbar als die vorzüglichsten Werke der Bildnerkunst, die aus jenem goldnen Alter der Musenkünste, wo so viele Schöpfer schöner Werke aller Gattungen in einem Jahrhundert sich zusammenfanden, unsre Zeit erreicht haben. Wie allgemein sie gefallen haben müsse, beweisen schon allein die häufigen Nachahmungen, deren Hr. P.  Schneider in seiner vortreflichen Ausgabe der Xenof. Memorabilien nicht weniger als zwölf unter Griechen und Römern nennt, und denen leicht eine eben so große Anzahl von Neuern beygefügt werden könnte; die aber alle hinter Lucians, dem Original selbst den Vorzug streitig machendem, Traume weit zurückbleiben. Uebrigens ist unter den Gelehrten, so viel ich weiß, ausgemacht, daß in dieser Erzählung, so wie sie uns hier von Xenofon mitgetheilt ist, dem ersten Erfinder schwerlich mehr als Komposizion und Zeichnung angehöre. - In mehr als Einer Rücksicht lesenswürdig ist Shaftesburys Idee eines historischen Gemähldes von der Wahl des Herkules, die den 7ten Traktat seiner sogenannten CHARACTERISTICS OF MEN, MANNERS, OPINIONS AND TIMES ausmacht.

Montag, 9. März 2009

Sokrates

Aristippos. Xenofon, der uns dieses Gespräch zu Anfang des zweiten Buchs seiner Sokratischen Denkwürdigkeiten mittheilt, führt es als ein Beispiel auf, wie Sokrates diejenige, die sich vor andern zu ihm hielten und durch ihn besser zu werden wünschten, Τους συνοντας. Sokrates machte nie den Lehrer von Profession, was man damals σοφιστευειν nannte; er hatte also auch, im gewöhnlichsten Sinne der Worts, keine Schüler, oder Lehrlinge; und dies ist eben der Grund, warum Xenofon das Wort συνειναι gebraucht, um das Verhältniß zwischen Sokrates und den, die seinen Umgang vorzüglich suchten, zu bezeichnen. Es ist daher immer noch besser gethan, συνοντες durch Freunde als durch Schüler zu geben, wiewohl nicht alle, die von seinem Umgang zu profitiren suchten, seine Freunde in der engern Bedeutung des Wortes waren. von allem Uebermaß in sinnlichen Genüssen und Befriedigung natürlicher Triebe abzuhalten, und dagegen zur Nüchternheit, zur Thätigkeit, und zum Ausdauren unter allen Arten von Beschwerlichkeiten, denen man im Leben durch Noth oder Pflicht unterworfen werden kann, anzugewöhnen sich beflissen habe. Da er wußte (so fährt Xenofon fort) daß einer von denen, die sich zu ihm hielten, in diesem Punkt (nemlich im Hang zur Ueppigkeit, und in der Abgeneigtheit sich irgend eine sinnliche Befriedigung zu versagen) wenig Gewalt über sich selbst habe, legte er ihm einst diese Frage vor, - und nun folgt die vorstehende Unterredung mit Aristipp, die, wie man sieht, durch diese kleine Vorrede Xenofons auf eine dem guten Aristipp eben nicht sehr rühmliche Art herbeygeführt wird. Auch in dem Gespräch selbst läßt Xenofon seinen Meister dem jungen Mann einige sehr harte Dinge sagen. Die Versicherung des Diogenes von Laerte, daß Xenofon dem Aristipp nicht günstig gewesen sey, möchte also wohl ihren guten Grund gehabt haben, wiewohl er hierin bloß gemeine Sache mit den übrigen Sokratikern machte; daß er aber (wie der besagte Kompilator vorgiebt) diesen Diskurs gegen die Wollust dem Sokrates blos aus Haß gegen Aristipp beygelegt, d. i. angedichtet habe, scheint mir ohne Grund zu seyn, oder bedürfte wenigstens eines stärkern Beweises. Ob ich nun gleich keine Ursache sehe, zu zweifeln, daß dieses Gespräch, dem Hauptinhalt nach, zwischen Sokrates und Aristipp wirklich vorgefallen sey, so ist mir doch eben so wenig zweifelhaft, daß Xenofon sich, wenigstens in einzelnen Stellen, die Freyheit genommen von dem seinigen hinzuzuthun und den Sokrates so reden zu lassen, wie er glaubte, daß es seiner Denkart und seinem Karakter am gemäßesten sey; und da könnte dann wohl die persönliche Abneigung gegen Aristipp nicht ohne allen Einfluß auf den Ton des Gesprächs überhaupt und besonders auf einige auffallende Stellen, die im folgenden bemerkt werden sollen, geblieben seyn.

Sokrates. Sage mir, Aristipp, wenn dir ein paar junge Leute übergeben würden, um den einen zum regieren, den andern so, daß er weder Lust noch Vermögen zum regieren habe, zu erziehen, - wie wolltest du es anstellen? - Machen wir, wenn dirs recht ist, gleich mit der Nahrung als dem unentbehrlichsten, den Anfang.

Aristippos.(lächelnd) Die Nahrung möchte allerdings, da man ihrer zum Leben nicht wohl entbehren kann, der erste Punkt seyn.

Sokrates. Ohne Zweifel werden unsre beyden Zöglinge um Essenszeit zu Tische gehen wollen?

Aristippos. Man sollt' es denken.

Sokrates. Nun könnte aber gerade um diese Zeit ein dringendes Geschäfte abzuthun seyn: welchen von beyden wollten wir so gewöhnen, daß er lieber die Befriedigung seines Magens aufschieben möchte, als ein nöthiges Geschäft?

Aristippos. Freylich wohl den ersten, der zum Regieren erzogen werden soll, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß die Staatsgeschäfte unter seiner Regierung ungethan bleiben.

Sokrates. In diesem Fall hat es wohl mit dem Trinken dieselbe Bewandtniß? Er wird sich auch gewöhnen müssen, Durst leiden zu können?

Aristippos. Keine Frage!

Sokrates. Und wie ist es mit dem Schlafe? Welchen von beyden wollen wir so erziehen, daß er spät zu Bette gehen, früh aufstehen, und, wenn's nöthig ist, die ganze Nacht wach bleiben könne?

Aristippos. Immer noch den ersten, versteht sich.

Sokrates. Und der Afrodisischen Befriedigungen Das Wort Liebe sollte, däucht mich nie so sehr mißbraucht und herabgewürdiget werden, um καθ' υποκρισμον die von den Griechen mit dem Worte αφροδισια bezeichnete, oft sehr unsittliche Befriedigung eines Triebes zu verschleiern, für welchen, sobald er von dem reinen Zweck der Natur getrennt wird, keine Sprache ein anständiges Wort hat. Da der Name Afrodite, für Venus, allen deutschen Lesern bekannt ist, so däucht mich, es geschehe durch den Ausdruck Afrodisische Befriedigungen (αφροδισια, res venereae) der Pflicht, sich dem Leser verständlich zu machen, ein hinlängliches Genüge, und es werde zugleich die höhere Pflicht beobachtet, ungleichartige Dinge nicht mit einander zu vermengen, und einem Worte, das den schönsten und edelsten Affekt der menschlichen Seele zu bezeichnen bestimmt ist, durch einen, obgleich wohlgemeinten, Mißbrauch eine so leicht vermeidliche Zweydeutigkeit zuzuziehen. Ein ausländisches Wort, in so fern es nur verständlich genug und überhaupt so beschaffen ist, daß es unter gesitteten Menschen gehört werden kann, dünkt mich hiezu immer das schicklichste. sich enthalten zu können, um auch von diesen sich nicht an pflichtmäßigen Geschäften verhindern zu lassen?

Aristippos. Eben denselben.

Sokrates. Ferner, keine Arbeiten noch Beschwerlichkeiten zu scheuen, sondern sie vielmehr freiwillig zu übernehmen, welchen von beyden wollen wir dazu anhalten?

Aristippos. Unläugbar den, der zum Regieren gebildet werden soll.

Sokrates. Und überhaupt alles zu lernen, was man wissen und können muß, um über seine Gegner Meister zu werden, welcher wird dessen wohl am meisten bedürfen?

Aristippos. Freylich der künftige Staatsmann; denn ohne diese Kenntnisse und Geschicklichkeiten würde ihm alles übrige zu nichts helfen.

Sokrates. Dünkt dich nicht, einer der so erzogen ist, werde von seinen Gegnern nicht so leicht gefangen werden können, wie andre Thiere? Denn unter diesen giebt es einige, die ihr Magen so kirre macht, daß sie, ihrer natürlichen Schüchternheit ungeachtet, dem Reiz der Lockspeise nicht widerstehen können, und dadurch gefangen werden; andere, denen man durch (betäubende) Getränke nachstellt; noch andere, wie z. B. die Wachteln und Repphühner, die, sobald sie von der Stimme eines Weibchens gelockt werden, in brünstiger Begierde herbey geflogen kommen, und, über der gehofften Lust alle Gefahr vergessend, sich ins Netz des Vogelstellers stürzen.

Aristippos. Dagegen ist nichts zu sagen.

Sokrates. Dünkt dich nicht auch, es gereiche einem Menschen zur Schande, sich von einem blinden Trieb wie die unverständigsten Thiere überwältigen zu lassen? Die Ehebrecher, zum Beyspiel, wissen, indem sie andern ins Gehege gehen, recht gut, daß sie Gefahr laufen, in die Strafe des Gesetzes zu fallen, und was für schreckliche und schmähliche Mißhandlungen ihrer warten, wenn sie ertappt werden; und doch ist weder Schaden noch Schande vermögend, den Ehebrecher zurückzuhalten, daß er sich nicht blindlings in die größte Gefahr stürze, um einen Trieb zu befriedigen, zu dessen Stillung ihm so viele gefahrlose Wege offen stehen. Muß ein solcher Mensch nicht ganz und gar von einem bösen Dämon besessen seyn? Hr. Weiske (ein geschickter Lehrer an der berühmten Schulpforte, aus welcher so manche der vorzüglichsten Schriftsteller, Dichter und Filologen unsers Jahrhunderts hervorgegangen sind) der i. J. 1795. eine sehr brauchbare Uebersetzung der Xenofontischen Apomnemoneumaten, mit schätzbaren Sacherläuterungen und kritischen Anmerkungen (bey C. Fritsch in Leipzig) herausgegeben hat, ist, so viel ich weiß, der erste, der die Bemerkung gemacht, daß Sokrates hier nicht nur »auf einmahl aus seiner natürlichen Sprache, durch einen plötzlich entstandenen Unwillen gegen die Ehebrecher, in einen rednerischen Ton fällt, sondern sich auch von seinem vorgesteckten Ziel entfernt,« indem dieser pathetische Ausfall gegen die Ehebrecher in der That, wie jedem Leser (wenigstens nach dieser Erinnerung) in die Augen fallen muß, ein Auswuchs ist, der die schöne Symmetrie der ganzen Komposizion verunstaltet. Er hält daher für sehr wahrscheinlich, daß die ganze Stelle von ωσπερ οι μοιχοι (die Ehebrecher zum Beyspiel) bis zu Ende der Rede ein fremder Zusatz sey. Dies möchte ich ihm gleichwohl ohne die größte Noth nicht zugeben, - es wäre denn, wenn er hätte sagen wollen, daß Xenofon der Urheber desselben gewesen sey, welches aber seine Meynung keineswegs zu seyn scheint. Mich dünkt ich sehe hier zwey Auswege, den Text, wie er ist, zu retten. Aristipp war um die Zeit, daß dieser Dialog gehalten seyn mochte, wahrscheinlich nicht älter als höchstens fünf und zwanzig Jahre Sokrates starb im ersten Jahre der 95sten Olympiade, und Aristipp, dessen Geburts- und Todesjahr unbekannt sind) lebte noch im 2ten Jahr der 109ten Olympiade (also noch über 60 Jahre nach dem Tode des Sokrates) zu Athen, wohin er sich kurz vor der Deportazion des jüngern Dionysios nach Korinth, vom Hofe des letztern zurückgezogen hatte. Die feinen und mäßigen Wollüstlinge (deren Aristipp einer war) werden zwar gewöhnlich sehr alt; aber 80 bis 90. Jahre sind auch ein ganz hübsches Alter; und Aristipp müßte wenigstens 84. alt worden seyn, wenn er im Todesjahr des Sokrates 25 Jahre gelebt hätte. Da aber Hoffilosofen von 80. Jahren zu allen Zeiten seltene Vögel waren, so bin ich geneigter zu glauben, daß Aristipp, als er mit dem alten Sokrates lebte, wenig über 20 Jahre alt gewesen seyn dürfte. und also (nach der Pythagorischen Angabe der Horen des menschlichen Lebens) noch ein ADOLESCENTULUS, dem, bey seinen ohnehin nicht allzustrengen Grundsätzen, zu Athen (wo die Frauen zum Theil noch laxere Grundsätze hatten als er, und sich auf die Verführungskunst meisterlich verstanden) leicht etwas menschliches begegnen konnte. Hr.  Weiske meint zwar, »wenn Aristipp des gerügten Verbrechens verdächtig gewesen wäre, so hätte Sokrates unklug gehandelt, itzt, da er den jungen Mann gewinnen wollte, dawider zu deklamiren,« und dies ist ihm, wie es scheint, ein neuer Grund, diese Stelle für unächt zu halten. Aber Sokrates könnte ja auch Nachricht gehabt haben, daß irgend eine athenische Kalonike oder Lampito ihr Netz nach ihm stelle, und ihn durch diesen gelegenheitlichen Ausfall nur habe warnen wollen. Auch muß ich gestehen, daß ich in der Rede, die dem S. hier in den Mund gelegt wird, zwar einen, der Sache angemessenen und bis zum Eifer gehenden Ernst, aber keine Deklamazion sehen kann, und im Gegentheil nicht wohl begreife, wie er, um einen seine Person und sein Vergnügen liebenden Jüngling abzuschrecken, weniger hätte thun, oder die Strenge seiner ohnehin nicht auf das Kantische Sittengesetz sich stützenden Moral gefälliger hätte mildern können, als indem er ihm eine PARABILEM VENEREM FACILEMQUE wenigstens CONNIVENDO zu erlauben scheint.

Mein zweyter Ausweg ist: anzunehmen, daß die angefochtene Stelle zwar nicht von Sokrates, aber doch von Xenofon herrühre, und dabey vorauszusetzen, daß seine aus Verschiedenheit der Denkart, Sitten und Lebensweise leicht erklärte, und mit Verachtung vermischte Abneigungen gegen den Filosofen für die Welt,

QUEM OMNIS DECUIT COLOR ET STATUS ET RES, sich in die Darstellung eines ehmals wirklich zwischen ihm und ihrem gemeinschaftlichen ehrwürdigen Freund vorgefallenen Gesprächs gemischt habe. Der Unterschied zwischen Xenofon, der beynahe in allen Lagen und Verhältnissen des öffentlichen und Privatlebens das Sokratische Ideal eines καλου και αγαθου praktisch darstellte, und Aristipp, der sich eine eigene, nur für ihn selbst und wenige, QUOS AEQUUS AMAVIT JUPITER, passende Filosofie der Grazien gemacht hatte, war zu groß, als daß der erste (der überdieß um zwanzig Jahre wenigstens älter war) den andern in einem freundlichem Lichte hätte sehen, geschweige gar mit Schonung hätte behandeln können, wenn sich ihm eine so gute Gelegenheit, wie hier, anbot, die Denkart und Lebensweise Aristipps mit der Sokratischen in einen recht auffallenden Kontrast zu setzen. - In der Uebersetzung der letzten Worte ουκ ηδη τουτο πανταπασι κακοδαιμονωντος εστιν; habe ich den ganzen Nachdruck des Hauptworts auszudrücken gesucht, und hierin den eleganten französischen Uebersetzer der Memorabilien, Levesque, zum Vorgänger gehabt - L'ON DIROIT QU'ILS Y SONT POUSSÉS PAR UN MAUVAIS GENIE.

Aristippos. So dünkt michs.