Weisheit

Freitag, 23. September 2016



                ENDE GUT – ALLES GUT! / KRIEG UND FRIEDEN
               
              Beim Lesen dieses Romans, der vor mehr als einhundertfünfzig Jahren erschien, vergisst man mitunter leicht, dass er, als er erschien, schon in die Kategorie „Historischer Roman“ gehörte. „Krieg und Frieden“ ist geschrieben in den Jahren 1863-1869, der Stoff des Romans liegt in der russischen Geschichte zwischen 1805 und 1813, der Epilog etwa im Jahr 1820, also sieben Jahre später.
              Der sechsunddreißig jährige Tolstoi (Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, 28. August jul. / 9. September 1828 greg. in Jasnaja Poljana bei Tula ; † 7. November jul. / 20. November 1910 greg. in Astapowo, heute Lew Tolstoi, in der Oblast Lipezk) trat diesen langen Marsch fast sechzig Jahre nach 1805 an; er war also ungefähr in der Lage eines Autors, der im Jahre 1973 einen Roman zu schreiben unternähme, der mit dem Jahr 1914 begänne. Wenn da Leser und Kritiker gelegentlich klagen, dass Autoren sich fünfundzwanzig Jahre nach 1945 noch mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, so haben sie immer noch nicht begriffen, dass der Stoff nicht den Autor, sondern der Autor den Stoff macht. Jeder Roman ist, wenn nicht utopisch, historisch, auch der sogenannte Gegenwartsroman. Schon die unvermeidliche Frist, die zwischen Schreiben und Drucklegung verstreicht, macht den verarbeiteten Stoff zu Geschichte. Die zeitliche Distanz ist eine relative Größe, zumal nicht einmal die Geschichtswissenschaft zu „objektiven“ Ergebnissen kommt: alles bleibt umstritten, wird ständig korrigiert, sobald sich neue Archive öffnen, irgendein Briefwechsel ausgegraben wird oder jemand einen neuen „Aspekt“ entdeckt. Dieses sind Zeiten der Veränderung.
              Da aber der Satz von Arthur Schopenhauer, vom zureichenden Grunde des Werdens nur bei Veränderungen Anwendung findet, darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass schon die alten Philosophen die Frage aufgeworfen haben, in welcher Zeit die Veränderung vorgehe? Sie könne nämlich nicht stattfinden, während der frühere Zustand noch vorhanden, und auch nicht nachdem schon der neue eingetreten ist: geben wir ihr aber eine eigene Zeit zwischen beiden; so müsste, während dieser, der Körper weder im ersten, noch im zweiten Zustande, z.B. ein Sterbender weder tot, noch lebendig, ein Körper weder ruhend, noch bewegt sein; welches absurd wäre! Die Bedenklichkeiten und Spitzfindigkeiten hierüber findet man zusammengestellt in der ganzen philosophischen Literatur Plato zum Beispiel hatte diesen schwierigen Punkt ziemlich cavalièrement (unverschämt) abgefertigt, indem er behauptet, die Veränderung geschehe plötzlich und fülle gar keine Zeit; es sei also ein wunderliches, zeitloses Wesen, das denn doch in der Zeit eintritt.
              Dem Scharfsinn des Aristoteles ist es demnach vorbehalten geblieben, diese schwierige Sachlage ins Reine zu bringen; welches er gründlich und ausführlich geleistet hat. Sein Beweis, dass keine Veränderung plötzlich, sondern jede nur allmälig geschehe, mithin eine gewisse Zeit ausfülle, ist gänzlich auf der Grundlage der reinen Anschauung a priori der Zeit und des Raumes geführt, aber auch sehr subtil ausgefallen. Das Wesentliche dieser sehr langen Beweisführung ließe sich allenfalls auf folgende Sätze zurückführen: An einander grenzen heißt, die gegenseitigen äußersten Enden gemeinschaftlich haben: folglich können nur zwei Ausgedehnte, nicht zwei Unteilbare, (da sie sonst Eins wären) an einander grenzen; folglich nur Linien, nicht bloße Punkte. Dies wird nun vom Raum auf die Zeit übertragen. Wie zwischen zwei Punkten immer noch eine Linie, so ist zwischen zwei Jetzt immer noch eine Zeit.
              Diese nun ist die Zeit der Veränderung; wenn nämlich im ersten Jetzt ein Zustand und im zweiten ein anderer ist. Sie ist, wie jede Zeit, ins Unendliche teilbar: Folglich durchgeht in ihr das sich Verändernde unendlich viele Grade, durch die aus jenem ersten Zustande der zweite eventuell oder vielleicht erwächst. – Gemeinverständlich ließe sich die Sache so erläutern: Zwischen zwei sukzessiven, also schrittweisen, Zuständen, deren Verschiedenheit in unsere Sinne fällt, liegen immer noch mehrere, deren Verschiedenheit uns nicht wahrnehmbar ist; weil der neu eintretende Zustand einen gewissen Grad, oder Größe, erlangt haben muss, um sinnlich wahrnehmbar zu sein. Daher gehen demselben schwächere Grade, oder geringere Ausdehnungen voraus, welche durchlaufend eher zufällig entstehen. Dieses zusammengenommen, begreift man unter dem Namen Veränderung, und die Zeit, welche sie ausfüllen, ist die Zeit der Veränderung.
              Wenden wir dies z. B. auf einen Körper an, der angestoßen wird; so ist die nächste Wirkung eine gewisse Schwingung in seinem Innern, welche, nachdem sie durch den Impuls, in äußere Bewegung gerät.
              Aristoteles schließt ganz richtig, aus der unendlichen Teilbarkeit der Zeit, dass alles diese Ausfüllende, folglich auch jede Veränderung, d.i. Übergang aus einem Zustand in den andern, ebenfalls unendlich teilbar sein muss, dass also Alles, was entsteht, in der Tat aus unendlichen Teilen zusammenkommt, mithin stets vielleicht, aber nie plötzlich wird. Aus den obigen Grundsätzen und aus dem daraus folgenden allmähligen Entstehen jeder Bewegung, zieht er die wichtige Folgerung, dass nichts Unteilbares, folglich kein bloßer Punkt, sich bewegen könne. Dazu passt auch sehr schön Kants Erklärung der Materie, dass sie „... das Bewegliche im Raum.“ ist.
              Dieses also zuerst von Aristoteles aufgestellte und bewiesene Gesetz der Kontinuität und Allmähligkeit aller Veränderungen finden wir von Kant sehr gut dargelegt: nämlich in seiner Dissertation: in der „Kritik der reinen Vernunft“; und in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“, und am Schluß, in der „Allgemeinen Anmerkung zur Mechanik“. An allen drei Stellen ist seine Darstellung der Sache kurz, aber auch nicht so gründlich, wie die des Aristoteles, mit der sie dennoch im Wesentlichen ganz übereinstimmt; daher nicht wohl zu zweifeln ist, dass Kant diese Gedanken direkt, oder indirekt, vom Aristoteles übernommen hat; obwohl er ihn nirgends ausdrücklich erwähnt.
              Der Satz des Aristoteles, „zwischen zwei Augenblicken gibt es immer eine Zeit“; gegen welchen sich einwenden ließe: „Zwischen zwei Jahrhunderten ist keine Zeit; weil es in der Zeit, wie im Raum, eine reine Grenze geben muss“. Das stimmt zwar nicht, aber es wird immer mitgedacht!
              Statt also den Aristoteles zu erwähnen, will Kant, in der ersten und ältesten der angeführten Darstellungen, jene von ihm vorgetragene Lehre mit der Kontinuität von Leibnitz identifizieren. Wäre diese mit jener wirklich dieselbe, dann hätte Leibnitz die Sache jedoch vom Aristoteles.
              Nun hat Leibnitz, nach seiner eigenen Aussage, sie zuerst aufgestellt, in einem Brief an Piere Bayle, wo er es jedoch „principe de l'ordre général - Prinzip der Allgemeinheit“ und unter diesem Namen ein sehr allgemeines und unbestimmtes, vorzüglich geometrisches Räsonnement (d. h. vernünftiges Urteil) nennt, welches auf die Zeit der Veränderung, die er gar nicht erwähnt, keine direkte Beziehung hat.
              Nun gut, dieses ist nicht einwandfrei überliefert! Aber es ändert sich alles im Raum, und es geschieht ständig.
              Auch vor dem Hintergrund umstrittener Daten der deutschen Geschichte, z. B. dem 30. Januar 1933 (Mit Machtergreifung - auch Machtübernahme bzw. Machtübergabe - wird die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 bezeichnet, im Kontext aber auch die anschließende Umwandlung der bis dahin bestehenden parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik in eine nach dem Führerprinzip agierende zentralistische Diktatur. Hitler übernahm die Führung einer Koalitionsregierung von NSDAP und nationalkonservativen Verbündeten - DNVP, Stahlhelm -, in welcher neben ihm vorerst zwei Nationalsozialisten Regierungsämter bekleideten. Nachdem am 1. Februar der Reichstag aufgelöst worden war, schränkten die Machthaber in den folgenden, von nationalsozialistischem Terror gekennzeichneten Wochen die politischen und demokratischen Rechte durch Notverordnungen ein. Als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Diktatur gilt dabei die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933.), sowie dem 30. Juni 1934 (Der Röhm-Putsch, Ereignisse Ende Juni/Anfang Juli 1934, bei denen die Nationalsozialisten die Führungsebene der SA einschließlich Stabschef Ernst Röhm ermordeten. Die nationalsozialistische Propaganda stellte die Morde als präventive Maßnahme gegen einen angeblich bevorstehenden Putsch der SA unter Röhm – den sogenannten Röhm-Putsch – dar. In der Folge wurde der Begriff Röhm-Putsch nicht mehr nur für den angeblichen Putsch, sondern für die gesamten Ereignisse einschließlich der Morde benutzt. In der „Nacht der langen Messer“, am 30. Juni / 1. Juli 1934, wurden Ernst Röhm und weitere auf Hitlers Anweisung am Tegernsee zusammengerufene Funktionäre der SA-Führung verhaftet und – zum Teil noch in derselben Nacht – ermordet. Weitere Ermordungen folgten in den nächsten Tagen. Es sind namentlich etwa 90 Ermordete nachzuweisen, einige Forscher gehen aber weiterhin von einer Gesamtzahl von etwa 150–200 Toten aus. Dazu gehören außer SA-Mitgliedern weitere von der nationalsozialistischen Führung als feindlich eingeschätzte Personen, darunter bekannte Persönlichkeiten wie z. B. Kurt von Schleicher, Hitlers Amtsvorgänger als Reichskanzler. Daneben gab es aufgrund von Verwechslungen auch Zufallsopfer. Die vor allem auf Betreiben von Hitler und Hermann Göring lange vorbereitete „Säuberungswelle“ wurde durch Kommandos der SS mit Unterstützung der Gestapo und der Reichswehr durchgeführt. Zugrunde lagen der Mordaktion NS-interne ideologische Differenzen und machtpolitische Spannungen zwischen der SA und Teilen der NSDAP, auf deren Seite Hitler stand. Nach den Morden verlor die SA ihre politische Bedeutung, die SS wurde selbständig und nahm eine wichtige Rolle ein. Die Führung der Reichswehr ließ nach dem Tod von Reichspräsident Paul von Hindenburg am 2. August 1934 die Reichswehr auf Hitler vereidigen.), und dem 20.Juli 1944 (Das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 gilt als bedeutendster Umsturzversuch des militärischen Widerstandes in der Zeit des Nationalsozialismus. Als Voraussetzung für den geplanten Machtwechsel, auch unter dem Gesichtspunkt des „Eides auf den Führer“, wurde die Tötung Hitlers angesehen. Die von Claus Schenk Graf von Stauffenberg bei einer Besprechung im Führerhauptquartier Wolfsschanze – Wolfsschanze war der Tarnname für ein militärisches Lagezentrum des Führungsstabes der deutschen Wehrmacht und eines der Führerhauptquartiere während des Zweiten Weltkrieges in der Nähe von Rastenburg (heute Kętrzyn) beim Dorf Görlitz (Gierłoż) in Ostpreußen, im heutigen Polen. - deponierte und scharf gemachte Sprengladung verletzte den Diktator jedoch nur leicht. Dieser Fehlschlag sowie Lücken in der Vorbereitung und das Zögern beim Auslösen der Operation Walküre, des Plans zum Staatsstreich, ließen den Umsturzversuch scheitern. Die Beteiligten der Verschwörung, die Personen des 20. Juli 1944, stammten vor allem aus dem Adel, der Wehrmacht und der Verwaltung. Sie hatten vielfach Kontakte zum Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke. Unter den mehr als 200 später wegen der Erhebung Hingerichteten waren Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, 19 Generale, 26 Oberste, zwei Botschafter, sieben Diplomaten, ein Minister, drei Staatssekretäre sowie der Chef des Reichskriminalpolizeiamts; des Weiteren mehrere Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten und Regierungspräsidenten.), sind schon ganze Bibliotheken von Forschungsergebnissen und Analysen angehäuft. und immer noch bleibt vieles dunkel, unerklärlich., und so unternehmen History, Psychologie und Literatur, getrennt voneinander, Erklärungsversuche. Es gibt wahrscheinlich keine Konkurrenz zwischen irgendeiner Wissenschaft und etwa der Literatur; denn die Literatur unternimmt auf ihre Weise Annäherungsversuche, indem sie dem geschichtlichen Stoff Personen auflädt, die keine „Geschichte gemacht haben“.
              Es mögen sich die Distanzen verringern, der Wunsch der zeitgenössischen Leserin und des zeitgenössischen Lesers, mit der Geschichte „fertig“ zu werden, sie als „abgefertigt“ betrachten zu dürfen, dem ein immer größer werdendes Maß an miterlebter und anfallender Geschichte entspricht, ist verständlich. Das Verlangen nach Gegenwart und Gegenwärtigkeit ist groß, die Abneigung gegen Geschichte wächst wie die Hinwendung zu Theologie und das Verlangen nach Mythos und Religion, oft schwer erkennbar und gelegentlich „pervers“ verkleidet. Mit dieser Geschichtsüberfütterung hat wahrscheinlich der Wunsch nach neuen Ausdrucksformen. nach dem permanenten Kunstwerk zu tun, das sich mit jedem Ruck des Sekundenzeigers verändert und doch bleibt, Vergänglichkeit in Unvergänglichkeit aufgehoben.
              Jeden Tag ein halbes Dutzend geschichtliche Augenblicke; unterzeichnete Verträge, gebrochene Verträge, immer Krieg, permanent Bürgerkrieg, und ständig gebrochene Waffenstillstände; Interventionen, Militärhilfe, Invasionen, die Strategie des Euros, und immer nur Krieg. Den gibt’s aber nicht wirklich, jedenfalls zum Glück nicht bei uns. Wir leben in tiefem Frieden. Manchmal kleine Demonstrationen von Türken; Studentendemos, schon lange nicht mehr, streikende Arbeiter gibt es auch nicht aber hin und wieder lüftet ein investigativer Journalist, ein Autor, Maler oder Komponist den Deckel über ganze Regionen: Syrien, Libyen, Ägypten, Irak, Afghanistan, Mittelamerika, Afrika, usw., und wir erfahren ein wenig von der wirklichen Geschichte ganzer Kontinente, deren offizielle Geschichte anderswo bestimmt und geschrieben wird. Wir erfahren zu viel und zu wenig, und in dem Augenblick, wo es gepostet wird, ist alles schon geschehen, also Geschichte, Zeit der Veränderung!
              Was hat nicht alles „Geschichte gemacht“? Plötzlich fällt da etwas, ein greifbares, fürchterliches Zeichen: zwei Türme in New York City; ist denn „nine eleven“ nicht, vom Standpunkt eines stoffbesessenen Autors aus, der sich ansonsten weigern sollte, Überschriften für die BILDungszeitung zu liefern, eine Antwort auf Gegenwart und Vergangenheit zugleich? Und auf angehäufte Geschichte, die mit den Deutschordensrittern begonnen haben mag (wahrscheinlich noch viel früher) und aus einem jahrhundertealten Misstrauen, Umwerben, aus Angst und Bewunderung zugleich, aus missglückten Versuchen des einander Verstehens vom Osten nach dem Westen und umgekehrt, sowie Unterwerfungsversuchen nach beiden Richtungen.
              Und man bedenke, dass die Geschichte in Europa, als sie noch von zwei Ländern halbwegs „gemacht“ werden konnte, auf zwei Personen ruhte, Vettern, die einander mit „Dear Willy“ und „Dear Nicky“ anredeten, zwei extrem traurigen und absurden Gestalten, „Geschichtsträgern“ Europas, und dass es da einen ersten und zweiten Weltkrieg gab und noch keinen Frieden; dass Geschichte gemacht wurde von Menschen, für die Europa am Rhein, wenn's hochkommt, an der Elbe aufhört, dauernde Kränkungen, Lockungen, im Tweedrock der Freiheit - und plötzlich steht da eine Mauer, die ein- und aussperrt; Schotten dicht, den Rücken zugekehrt.
              Dear Willy! Dear Nicky! Der eine war auf eine verrückte Weise zu „deutsch“ und der andere auf eine verrückte Weise zu „russisch“, und beide hatten sie „englische“ Physiognomien. Eine wahnwitzige „Vetternwirtschaft“, und die uralte Angst Westeuropas, dass diese beiden Riesen, von denen der eine ganz, der andere halb östlich ist, einander hätten in die Arme fallen können. Angst vor und Hoffnung auf Deutschland, verwandelt später in eine permanente Verkennung der Wünsche und der politischen Kraft jener vielfach verratenen „deutschen Arbeiterklasse“.
              Und da gibt es ja nicht nur und gab nicht nur Russland und die Sowjetunion; Polen gibt es und Litauen, Lettland, Estland, und es gibt da einen Staat, der Tschechoslowakei heißt, in dem man eine unsichtbare, schreckliche Mauer - Die Deutschen in der Prager Gesellschaft zwischen Abkapselung und Interaktion (1918–1938/39) - errichtet hat. Und es gibt da auf irgendwelchen Landkarten, die bei Konferenzen benutzt werden, seltsam ungenaues Bleistiftgekritzel, wirres Gekräusel: verkannte Geschichte Osteuropas, Asiens, Arabiens, besonders Arabiens .... Eins ist gewiss: „Keiner“ da am Konferenztisch kannte die Geschichte.
              Und plötzlich, viele, viele Jahre später nach so mannigfaltigsten Missverständnissen, steht da eine Mauer, an der sich Geschichte staut, weil immer noch kein Frieden geschlossen ist. Kein Krieg und kein Frieden. Und zum vorläufigen Ende einer kaum messbar langen Geschichte stehen Hochhäuser an einer Mauer, ein Hotel, von dem aus man „von oben herab“, ganz und gar in „Menschenwürde“ gekleidet, auf jene hinabblicken kann, die man schamlos besichtigt; selbst Staatsbesucher scheuen sich nicht, das Treppchen hinaufzusteigen und kopfschüttelnd, empört, bewegt, einmal rasch hinüberzublicken und so zu tun, als hätte es nie einen ersten, und auch keinen zweiten Weltkrieg gegeben, nicht Hitler oder Napoleon, nicht die permanente Arroganz des Westens gegenüber dem Osten, nicht die Un- und Untermenschenideologie und keine Konferenzen in Yalta und Potsdam und nicht die naive Vorstellung geschichtemachender Militärs, Berlin wäre ja dann doch nicht so wichtig.
              So haben Ost und West sich auf einen Besichtigungswert reduziert. Nur ein totaler Poet kann Geschichtslosigkeit anstreben oder sie einfach als künstliche Position einnehmen - und außerdem können es offenbar Politiker oder geschichtemachende Militärs, die verletzliche und vielfach verletzte Grenzen, diesen europäischen Grenzwirrwarr alexandrinisch zu lösen versuchen, ohne Alexander zu sein. Bei denen, die Poesie ohnehin ablehnen - auf der Suche nach einer neuen, die anders heißen wird - und sich gleichzeitig gegen die plumpen politischen und militärischen Versuche empören, die einer ähnlichen Verkennung von Geschichte entsprechen.
              Nun jedenfalls erklärt die Lektüre von „Krieg und Frieden“ - u. a. natürlich, das ist vorausgesetzt - die Mauer in Berlin besser als die beiderseits recht hohl klingenden Parolen, und es ist auch eine Tatsache: Eine solche Verteidigung eines doppelt historischen Romans ist sehr weit hergeholt. Möglicherweise lässt sich das Naheliegende durchs Weit hergeholte, aber nicht so, wie Yaşar Kemal in seinem Debütroman „Das Unsterblichkeitskraut“ schreibt: „... Es dauerte nicht lange, da war es in aller Munde: Ali der Lange zieht dieses Jahr nicht mit in die Ebene. Jeder suchte eine Erklärung. Zuerst hielten sie es für eine List, dachten an böse Absichten. Ali musste schließlich einen Grund haben. Irgendetwas musste ja für ihn dabei herausspringen. Sein Verbleiben im Dorf musste ihm bestimmt mehr einbringen als die Arbeit in den Baurnwollfeldern. Aber wie? Und woher? Sie überlegten hin und her, fanden aber weder eine naheliegende noch eine weit hergeholte Erklärung....“, manchmal ganz gut erklären. Was ist das für ein Land, in dem die Deutschen sich immer „russischer“ geriert haben als die Russen selbst, so wie die Deutschen immer päpstlicher als alle Päpste und vor allem ihr eigener waren? Es gibt Möglichkeiten, sich dieses Land anzuschauen: die gesamte Literatur Russlands, Riesenspaziergänge, einer davon und einer der wichtigsten ist „Krieg und Frieden“.
              Ein zweifach historischer Roman von diesem gewaltigen Umfang! Dieses Buch ist auf verschiedenen Ebenen ständig gegenwärtig. Seine ungebrochene und ununterbrochene Beliebtheit hat viele Gründe. Der erste mag der keineswegs verwerfliche Wunsch nach Information sein, der mit dem zweiten zu tun hat, den man mitunter lieber negativ ausdrückt, weil manchmal das Verhältnis zur „Unterhaltungsliteratur“ auf eine krampfhafte Weise gebrochen ist: das Buch langweilt nicht; es hat Längen, gewiss, ganze Passagen, in denen der Autor eigensinnig und eigenwillig darauf besteht, seine Ansichten darzulegen; es sollte jeder Leserin und jedem Leser eine Warnung sein davor, diese Passagen überschlagen und sich den Eigensinn des Autors Tolstoi ersparen zu wollen. Jedem Autor seine Wörtlichkeit, jedem Autor seine Längen, seinen Eigensinn. Das Verhältnis zur Wörtlichkeit ist manchmal eher bildungsverkrampft - Sean Penn meinte einmal dazu: „... es ist nicht endgültig, es klingt aber immer so irrsinnig überbetroffen und bildungsverkrampft, diese betuliche, humorlose Bitte-ich-weiß-auch-etwas-Attitüde, das stößt doch ab“. Eine Sache, die verständlich ist, sich mitteilen kann, ist schon fast verdächtig, journalistisch zu sein, eine Sache gar, die „unterhält“, ist das nicht, um Gottes willen, wie heißt es doch, ja natürlich, das ist doch „feuilletonistisch“.
              Die „eigentliche“ deutsche Sprache ist doch jener pseudomystische Jargon, den man unter Eingeweihten Mittelhochböhmisch nennt. Eine Sache muss schwer sein, fast unverständlich, und wenn sie gar am Ende noch „populär“ wird - dann aber rasch die Finger weg, da macht man sich ja regelrecht schmutzig, denn populär bedeutet ja wohl doch „im Grunde“ vulgär. Einer, der liest, nur um zu lesen, einfach, um zu lesen, weil es ihm möglicherweise Spaß macht, dem fehlt doch jeder Anspruch! Und jeglicher Bildungswille, wahrscheinlich die entsprechende Vorbereitung und ganz gewiss die Vorbildung. Wie kann denn jemand zum Beispiel Tolstois Napoleon-Bild beurteilen, wenn er historisch ungebildet ist? Was ist das für ein Mensch, der da ganz und gar unvorbereitet nach Italien fährt und sich etwa mit der erstaunlichen Stadt Rom konfrontiert? Wer bekennt sich schuldig: wer ist so eine, wer ist so einer, eine Leserin, ein Leser?
              Und auch nach der dritten, vierten und fünften Lektüre von „Krieg und Frieden“ ist die Neugier noch nicht gestillt, jene Neugier, die Literaturkritiker bis zur Raserei treiben, Leserinnen und Leser verrückt machen, die neugierige Frage nämlich: wo steckt denn in einem solchen Roman dieser Kerl, der Autor, wie hat er sich getarnt, wo hat er sich versteckt? Natürlich spürt man ihn gleich, wenn er den Zeigefinger hochhebt und zu dozieren beginnt, aber was nützt mir ein Zeigefinger, ich will den ganzen Kerl haben, ihn sehen. Einem eingefleischten Vorurteil zufolge - wer mag das aufgebracht haben? - versteckt sich der Autor meistens in irgendeiner sympathischen Heldin oder einem Helden? Manche glauben, ja, oder sie glauben - denn wissen tun sie nicht viel! - das nicht. Möglicherweise gäbe es eine Möglichkeit, den Autor wirklich in seinem „Gesamtwerk“ zu entdecken: man addiere sämtliche Personen, sämtliche: vom Diener, der einen Krug Wasser bringt und endgültig wieder verschwindet, bis zu irgendeiner Art von geschichtlicher Persönlichkeit, Napoleon oder so - sämtliche Personen, die da auf- und wieder abtreten, männliche und weibliche, ganz gleich, ob es sich um einen Autor oder eine Autorin handelt - und ziehe dann aus dieser Summe die vierte Wurzel. Zugegeben, es gibt keinen der diese Methode beherrscht und alle Hoffnungen ruhen auf der zukünftigen Informatik, die eines Tages jegliche Art von Autor auf irgendeinem Server ausrechnen kann. Bis dahin muss man den Autor auf die übliche unzulängliche Art und Weise ausfindig machen: indem man sein gesamtes Werk liest und jeder, aber auch jeder auftretenden Person auf die Finger und auf den Mund schaut, wenn nötig, sogar unter den Rock.
              Biographien sind gewöhnlich missglückte Annäherungsversuche, Autobiographien peinliche, manche glauben - und wieder dieser verfluchte Glaube! -, die Autobiographie eines Autors verbirgt sich in seinem Gesamtwerk. Neugierig ist man aber nicht nur auf den Autor, auch auf anderes: auf die stoffliche, die materielle Darbietung des russischen Adels; seine Leichtfertigkeit und seinen Leichtsinn, seine möglichen Verdienste, seine Verschwendungssucht, seine snobistische Vergnügungssucht; auch die Frage nach seiner Menschlichkeit ist noch völlig offen.
              Es gibt in „Krieg und Frieden“ sehr viele „geschichtliche Augenblicke“, in denen die ganze Last der Geschichte auf historisch unbedeutende Personen fällt. Natascha Rostow, die einige „Auftritte“ hat, hat ihren größten in der Stunde der Flucht aus dem brennenden Moskau. Der für Millionen Menschen auf dieser Welt sehr gegenwärtige quälende Unterschied zwischen Flucht und Umzug allgegenwärtig ist. Und gerade für die Besitzenden - und da rächt sich wieder einmal die Geschichte! - von besonderer Qual.
              Während die Rostows ihre Flucht vorbereiten, wobei man feststellt, dass es sogar einen Garderobenwagen gibt und einen hauseigenen deutschen Tanzlehrer mit Familie, bricht der übliche Streit aus, was denn nun mitgenommenen werden soll; darüber hinaus wird schließlich die Entscheidung fällig, ob man sich für Möbel, Kleider, Bücher oder für Verwundete entscheiden soll. Um das Maß voll zu machen, naht da noch der deutsche Schwiegersohn Berg, er hat Extramöbelwünsche, es ist ihm da ein „reizender Toilettentisch“, ein „wahrhaft entzückendes Stück“ und spottbillig - eigentlich ein unbedeutender Mensch, wenn die ganze Stadt abbrennt - angeboten worden, genau das Stück, das er seiner Frau schon lange schenken wollte.
              Und wer entscheidet diesen Streit, der sich zu einem Gewitter an Gereiztheit zusammenballt? Nicht der Herr Graf, nicht die Frau Gräfin oder gar der durchschnittliche Herr Berg, der „Deutsche!“; die zwanzigjährige Natascha hat ihren historischen Augenblick. Ihr Auftritt besteht darin, das Selbstverständliche zu entscheiden, und sie drückt sich recht deutlich aus: „Meiner Meinung nach“, schreit sie, „ist das eine Gemeinheit, eine Scheußlichkeit, eine totale Scheiße . . . ach, ich weiß nicht! Sind wir denn vielleicht wie die verkalkten Deutschen?“. Wird ein echter Bio-Deutscher mit diesem Volltreffer konfrontiert, so wird er betrübt sein und gleichzeitig triumphieren, triumphieren mag er sogar als Deutscher, da es ihm so sehr am Selbstverständnis fehlt, oder wie man das nennt, dann aber wird er, muss er betrübt sein als Exemplar jener Gattung, die Mensch heißt, und zu der er - mag's noch so unwahrscheinlich klingen - letzten Endes doch gehört.
              Natürlich gibt es diesen Besitzfetischismus, der Millionen Fluchten kennzeichnet, der sich an Einmachgläser, Kopfkissen oder Blumentöpfe klammerte. Ist das deutsch? Sind nicht Nataschas Mutter, ein wenig sogar ihr Vater, der sich nicht zum Selbstverständlichen entscheiden kann, ein bisschen deutsch, vielleicht haben die Deutschen erst im Zweiten Weltkrieg gelernt, jenen seltsamen Besitz zu schätzen, den man das nackte Leben nennt; man hat ihnen wohl nie beigebracht, um des Lebens willen zu leben - so wenig, wie um des Lesens willen zu lesen. Ihr Fluch ist auch ihr Segen, diese ständige Suche nach dem „Sinn“ des Lebens - und mag er sich auch, zum Fetisch pervertiert, in einem Blumentopf finden.
              Nataschas energisches Auftreten hat aber auch, und das macht diese Entscheidung so menschlich wie „romanhaft“, die Konsequenz, dass mit den Verwundeten ihr ehemaliger Verlobter Andrej Bolkonskij in die Obhut der Familie Rostow und damit wieder in Nataschas Nähe gerät.
              Der moderne Roman (-cier) verachtet solche Fädeleien, der Lesende beginnt hier, seiner Naivität nicht mehr zu glauben, der Unvoreingenommene mag sich aber getrost seinen Gefühlen und Gedanken hingeben und sich sagen: „Nein, so was! Ist das denn möglich? Gibt´s doch gar nicht!“. Er soll auch, ohne auch nur die geringsten Komplexe zu bekommen, derart eingefädelte Romanwirklichkeit für eine „wahre Geschichte“ nehmen und immer noch auf das Happy-End warten, nicht jenes, das sich am Schluss wirklich ereignet, sondern auf das vorgeschobene Ideal-Happy-End, in dem Andrej Bolkonskij und Natascha Rostow sich „gefunden“ hätten, na ja, vielleicht?
              Wissen sollte die Leserin und wissen sollte auch der Leser, dass Tolstoi für „Krieg und Frieden“ tatsächlich den banalsten aller banalen Romantitel eine Zeitlang erwogen hat, nämlich: „Ende gut - alles gut“! Ein für Intellektuelle möglicherweise abschreckender Titel, der sie höchstens auf ein paar Umwegen anziehen könnte. Aber nur wenige Romane der Weltliteratur sind so geeignet, das Lesen zu lehren, wie eben „Krieg und Frieden“.
              Schon im ersten Teil des Romans, der ein knappes Zehntel des Gesamtumfanges ausmacht, erfolgt der Ein- und Aufmarsch des gesamten Personals, das sich je nach Zeit, Geschichte, Zeitgeschichte und Milieu, mit dem entsprechenden Nebenpersonal umgeben, finden wird; dieses Personal, das Tolstoi streckenweise mit ganzen Kapiteln Philosophie und Militärgeschichte zudeckt, aus dem es sich dann, den Staub von den Haaren schüttelnd, wieder lebendig erhebt. Schon nach knapp einhundertfünfzig Seiten sind sie alle da: die Kuragin, Rostow, Drubezkoj und Bolkonskij, und es taucht jener merkwürdige, linkische und dickliche Mensch auf, dieser ewig zerstreute Pierre Besuchow, der die schlafwandlerische Sicherheit hat, im rechten Augenblick an der rechten Stelle aufzutauchen, um - wie der Tölpel im Märchen - das schönste Mädchen, das meiste Geld, die meiste Geschichte einzuheimsen: die gewaltige Erbschaft seines Vaters, auf die er angesichts der intrigierenden Gestalten im Sterbezimmer und angesichts seiner Ungeschicklichkeit wenig Aussicht hat; die Schlacht bei Borodino, den Brand Moskaus, Napoleons Lächerlichkeit, außerdem noch jenes Erlebnis, das in solchen Zeitläufen kein Zeitgenosse versäumen sollte: Gefängnis und Gefangenschaft; und am Schluss bekommt er sogar noch die Prinzessin, Natascha. Pierre Besuchow hat eine verfluchte Ähnlichkeit mit jenem Burschen, der mit einer toten Krähe und ein wenig Straßenschlamm in der Tasche der melancholischen Prinzessin als einziger zu Braten, Soße und Lachen verhilft.
              Tolstoi ist mit Besuchow etwas gelungen, das kaum einem Romancier außer ihm gelungen ist: einen Helden zu schaffen, den man ganz sympathisch findet, mit dem man sich aber kaum „identifizieren“ möchte? Es gibt so viele Tölpel, und so wenige davon bekommen die Prinzessin, und wer möchte schon ein Tölpel sein, auf die geringe Chance hin, die ein Märchen bietet?
              Wer würde, beim lesen des Romans, darauf wetten, dass es mit diesem Pierre ein “Ende gut - Alles gut“ nehmen könnte. Dieser liebenswürdige mittelmäßige Mensch, der grüblerisch und doch kein rechter Grübler ist, der zwar eindeutig und nachweisbar männlichen Geschlechts und doch kein „rechter Mann“ ist, dieser Brillenträger, dem man nicht einmal seine Flatterhaftigkeit so recht glaubt, ihm gegenüber wird sogar der gewaltige General Kutusow zur Charge; dieser Dilettant, dem die Reformen auf seinen Gütern misslingen, weil er viel zu faul ist, sich mit den entsprechenden Theorien zu befassen und die richtigen Leute zu suchen; der sich durch den ältesten und dümmsten aller Tricks mit Helene Kuragin verkuppeln lässt, durch das brennende Moskau stolpert, den kindlichen Gedanken im Kopf, Napoleon umzubringen; ein missglückter Millionär, der am Lagerfeuer froh wird um einen Schlag Suppe und ein Stück Brot: er ist der Held, und er, er führt die Braut heim. Ihm gehört Natascha; er gerät, zufällig und ahnungslos an den Punkt, wo die Schlacht von Borodino sich entscheidet: er, der in peinlichem Zivil durch die Aufmarschstellungen fährt, er wird zum „Frontkämpfer“.
              Tolstoi kommt der Leserin und dem Leser ständig entgegen und schreckt ihn ständig wieder ab, weil er immer wieder den warnenden Zeigefinger erhebt. Nirgendwo wird auch nur andeutungsweise etwas wie Anbiederung versucht, die sich sowohl in bloßem Entgegenkommen wie in bloßer Abschreckung verbergen kann.
              Hat Tolstoi nicht als erster Autor dem Krieg jene Komponente gegeben, die man immer noch scheut, weil „Heldentum und Schicksal“ doch immer noch als Tabu gelten: die Komponente der Lächerlichkeit derjenigen, die Kriege machen?
              Dostojewskijs „Raskolnikow“ („Schuld und Sühne“) und „Der Idiot“ sind fast gleichzeitig mit „Krieg und Frieden“ erschienen (1866 und 1868), da man kaum annehmen kann, die beiden hätten einander auf den Schreibtisch geblickt - und blicken lassen! -, mag es Zufall sein, dass „Raskolnikow“ und Fürst Myschkin („Der Idiot“) gewisse Ähnlichkeiten mit dem dicklichen Pierre haben. Natürlich sind weder Raskolnikow noch Myschkin auch nur annähernd dick vorstellbar, möglicherweise aber steckt in solch scheinbar nebensächlichen physiologischen Details ein Ansatz, die beiden großen Gegensätze der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts in ihrer Verschiedenheit zu erkennen und in ihrer gegensätzlichen Methode der Verstofflichung ihrer Vorstellungen.
              Die allermeisten jedenfalls denken sich Raskolnikow und Myschkin extrem mager, die einzigen jugendlichen Helden Dostojewskijs, denen man eine gewisse Leibesfülle zubilligen könnte, wären der unglückliche Michail Karamasow („Die Brüder Karamasow“) und der ungemein sympathische Rasumichin, Raskolnikows Freund; und es mag auch sein, dass Aljoscha Karamasow später ein wenig Fett ansetzen würde.
              Nur wenige Male auf mehr als eintausend-fünfhundert Seiten gerät Pierre Besuchow in jenen Zustand, der jugendlichen Dostojewskij-Helden nicht nur vertraut, der ihnen permanent ist: außer sich. In einer Auseinandersetzung mit seiner extrem bösen Frau Helene und nach der Entführung Nataschas durch seinen Schwager Anatol. In solchem Augenblick ist er duellreif und weiß doch vorher, wie lächerlich Duelle sind.
              In einem weiteren Detail der Verstofflichung unterscheiden sich Dostojewskij und Tolstoi, in dem erscheinen von menschlichen Gestalten in ihrer ganzen Metzenhaftigkeit. So hält man Sonja Marmeladova („Schuld und Sühne“) für eine der unsterblichen Frauengestalten der Weltliteratur, aber eins glaubt niemand ihr bis heute nicht: dass sie eine Hure war; der Maslova in Tolstois „Auferstehung“ glaubt man´s schon eher! Wie sie dazu geworden ist, wäre eine weitere Frage.
              Der Leserin und dem Leser mag dieser Aufmarsch des gesamten Personals auf den ersten einhundertfünfzig Seiten eines Romans nicht so waghalsig vorkommen wie dem Nichtleser. Alle großen Romane Tolstois sind „gewagt“ - und gewonnen: „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“ und auch „Auferstehung“.
              Im ersten Teil von „Krieg und Frieden“ tritt die Moskauer, die Petersburger Gesellschaft, der Land- und der Stadtadel fast in Regimentstärke an, ganze Sippen, Gute und Böse, Geschwätzigkeit, Frömmelei, Verworfenheit, Kinder, Erwachsene, Greise, französisch parlierend, verspätete Voltaires und Rousseaus; Intrigantentum, Großzügigkeit, Gemeinheit. Was soll aus ihnen allen werden, vor allem aus diesem Tölpel Besuchow, der zu allem Überfluss auch noch das Herz auf der Zunge trägt? Vierzehnhundert Seiten später ist die Beute eingebracht: Krieg, Frieden, Russland zwischen 1805 und 1813, seine Gesellschaft, seine Angst, seine unheimliche Ruhe, seine Bauern, seine Soldaten, Kaufleute, sein listiges Zögern gegenüber Napoleon, der die Räumung Moskaus missversteht. Vor den Toren Moskaus die Ehrenerweisungen der Bojaren erwartet. der recht ärgerlich ist, weil sie ihn so lange warten lassen, und dann in die schweigende, eisig schweigende Stadt, in die schon schwelende, später lichterloh brennende Falle hineintappt, er, der wahnwitzig genug war, diesem unendlichen Horizont entgegen zu marschieren. Wer dächte nicht, wenn er über das Jahr 1812 liest, an das Jahr 1941, als eine weitere und weitaus dümmere Arroganz und Verkennung des europäischen Westens zugunsten des Ostens fällig war: der Einmarsch der deutschen Armee, die zwischen Juni und November Leningrad und Stalingrad und Moskau erobert und gleichzeitig auch noch innerhalb von viereinhalb Monaten den russischen Winter, ohne halbwegs dazu ausgerüstet zu sein, „besiegt“ haben wollte.
              Natürlich wird da in strategischen Erinnerungen herum spekuliert auf dem WENN WENN! Die Antwort war deutlich: der härteste Winter seit einhundert Jahren kam, und es half kein WENN! Große Schlachtenlenker können später immer auf WENN´S spekulieren, ein Autor darf es nie. Hitlers „Beresina“ dauerte drei Winter, aber am Ende war ein halbverkohlter Leichnam vor einem Bunker in Berlin, und ein verratenes, verlassenes, verkauftes Volk – und fünfundzwanzig Jahre später blickt man vom Springerhochhaus und vom Hilton Hotel “von oben herab“ wie auf Affen im Zoo und hat noch nicht gemerkt, dass die eigene Äffigkeit sich schon zu zeigen beginnt. Nein, nein, frei möchten die Menschen schon sein, aber was es bedeutet, durch Deutsche befreit zu werden, das werden sie nicht so bald vergessen. Aber dann, haben sich diese „Affen“ gleich selbst befreit, befreit, um gleich wieder eingefangen zu werden, von Unkel Sam und seiner West-Allianz.
              Da die meisten eine (vielleicht glückliche) Veranlagung haben, Inhalte zu vergessen, sie aber immer wieder und immer nur in ihrer Verstofflichung näher kommen können, erfüllt bei jeder Lektüre von „Krieg und Frieden“ am Ende des ersten Teils, den man als eine Art Exposition betrachten kann, die gleiche Bangigkeit: wie wird er diesen großen Aufmarsch durch die Zeiten, über die Runden bringen? Natürlich, es gibt da zwei Handlungsträger, auf die sich ein Autor einigermaßen verlassen kann, einen weiblichen, den Frieden, einen männlichen, den Krieg, und das ist auch inzwischen so weit geklärt, dass mit Natascha nicht alles glatt gehen wird: das ideale Brautpaar, Natascha Rostow und Andrej Bolkonskij, sie werden sich nicht kriegen, und das böse, geschickt angelegte Vorhaben des alten Kuragin, die beiden großen Vermögen Bolkonskij und Besuchow durch Verkupplungsversuche, von denen der eine nur vorübergehend gelingt, einzuheimsen, wird doch am „Ende gut - alles gut“ vereitelt. Sogar für finanziellen Lastenausgleich wird gesorgt, die durch Verschwendung ruinierten Rostows können aufatmen: Natascha heiratet Pierre und Nikolai heiratet Marja Bolkonskaja. Ist das nicht ein Märchen? Ist Tolstoi nicht eine groß angelegte, großartige Täuschung gelungen, mit diesem alltäglichen, durchschnittlichen Besuchow, den jeder für so „wirklich“ hält? Ist er nicht unwirklicher als Napoleon und Kutusow, als dieser ganze historisch verbürgte Hinter- und Vordergrund, diese wie bei einem historischen Prachtschinken vielschichtig aus gespachtelte Grundierung, die Tolstoi braucht, um Pierre Boden unter die Füße zu schaffen?
              Vor dem Happyend vergehen noch acht Jahre und vierzehnhundert Romanseiten, es kommen noch weitere vierzehn Teile, ein Epilog und nicht weniger als insgesamt dreihundertunddreiundfünfzig Kapitel. Der geneigten Leserin und dem geneigten Leser mögen solche Zahlenangaben unwichtig, ja, wie eine frivole Zerstückelung vorkommen, für den lesenden Genießer sind sie von genauso großer Wichtigkeit wie der gesamte Inhalt und das umfangreiche Personal mit allen seinen Problemen. Schließlich wird an jedem Roman herumgestückelt, herausgeschnitten, geklebt, geändert - ein Vorgang, den man gemeinhin Komposition nennt; diese Zerstückelung gehört zu dem Vorgang, den man den schöpferischen Prozess zu nennen beliebt. Solche Ziffern und Zahlenwerte bringen den Rhythmus nahe, den Atem, mit dem ein Autor auf solch einer langen Reise sparsam umgehen muss. Die Durchschnittslänge jedes der fünfzehn Teile beträgt etwa einhundertfünf, die Durchschnittslänge jedes Kapitels zwischen vier und fünf Seiten. Glücklicherweise erreicht keiner der Teile und erreichen nur wenige Kapitel diesen „Durchschnittswert“. Das Berechenbare erweist sich als unberechenbar; natürlich ist solch ein Roman nicht rechnerisch erfassbar, und doch hat er seine Endlichkeit, hat er seine Länge und sogar Längen, hat er eine vom Autor höchstpersönlich vorgenommene Einteilung in Bücher, Kapitel, Abschnitte.
              Es ist nicht bekannt, ob es schon computergestützte Messungen von Romanrhythmen gibt, es wäre vielleicht aufschlussreich, und gäbe es sie, würde man unbedingt „Krieg und Frieden“ und den „Raskolnikow“ miteinander vergleichen, diese beiden Odems gern nebeneinander sehen. Wahrscheinlich ergäben beide, rhythmisch geröntgt, materialisiert, phantastische Grafiken als Nebenprodukte der Literatur. Auf eine Formel verkürzt, ein weiterer Vergleich zwischen Tolstoi und Dostojewskij: Tolstoi ist auch in der aller kürzesten seiner Erzählungen langatmig, Dostojewskij kurzatmig bis zur Atemlosigkeit. Im „Raskolnikow“ ist auf eine fürs neunzehnte Jahrhundert sensationelle Weise schon der Zeitraffer am Werk. Man weiß gar nicht, und es ist auch nicht interessant zu wissen, wie lange die Spieldauer des Romans ist, ob drei oder fünf Tage, ob Wochen oder Monate: er ist in einem Augenblick vorüber. Bei Tolstoi schreitet man durch Jahrhunderte. Natascha ist bei Beginn dreizehn Jahre alt, am eigentlichen Ende des Romans ist sie einundzwanzig: knappe acht Jahre, die wie eine Ewigkeit erscheinen. Entkleidet man die Wörter langatmig und kurzatmig der negativen Nebenbedeutung, die sie im Deutschen haben, nimmt sie einfach als „technische Werte“, so kann man vielleicht die unterschiedlichen Rhythmen erkennen. Dostojewskij, jedenfalls der späte, wirkt auch in seinen umfangreichen Romanen, die immerhin an die tausend Seiten gehen, kurzatmig. Natürlich ist darin auch der Unterschied der Arbeitsweise und -bedingungen erkennbar.
              Man stelle sich vor, das Russland des neunzehnten Jahrhunderts sei in diesen beiden so verschiedenen Autoren gut aufgehoben und gut ausgedrückt. Tolstoi überraschenderweise der jüngere, der uns älter vorkommt, weil er älter geworden ist. Man kann hier nicht die Gestirne Puschkin, Gogol, Tschechow, Lermontow und Gontscharow noch in diese Überlegungen einbeziehen und nicht die zahlreichen Satelliten der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, was notwendig wäre, um dem Eigenschaftswort „russisch“ auch nur annähernd Hintergrund zu geben. Ist Pierre so russisch wie Nataschas Deutsche deutsch; dieser Mensch, der ziemlich genau in der Mitte des Romans von sich selbst denkt: „Und er war nichts als der reiche Mann einer untreuen Frau, ein Kammerherr außer Dienst, der an gutem Essen und Trinken seine Freude hatte und wohl auch ein wenig auf die Regierung schalt, wenn er nach einem reichlichen Diner mit aufgeknöpftem Rock dasaß, Mitglied des Moskauer Englischen Klubs und allgemein beliebtes Mitglied der Moskauer Gesellschaft. Eine längere Zeit hindurch konnte er sich auch noch nicht recht mit dem Gedanken abfinden, dass er selbst nun ein richtiger Moskauer Kammerherr außer Dienst sein sollte - ein Typus, den er vor sieben Jahren so grimmig verachtet hatte“. Ist er russisch oder der frivole Dolochow, mit dem er sich duelliert? Ist es Bolkonskji oder der letzten Endes doch ein wenig schnöde und nicht überaus intelligente Nikolai Rostow, der Sonja sitzenläßt? Und was ist mit Anatol Kuragin oder dem Streber und erfolgreichen Karrieristen Boris Drubezkoj? Wer ist der „russischere“ oder gar der „russischste“ von allen? Vielleicht muss man tun, was man nicht tun darf: eine Nationalbezeichnung steigern und in den Superlativ setzen, um herauszufinden, wie fragwürdig sie sind. Was ist das für eine Eigenschaft, die man nicht steigern darf und kann? Und wo bleiben die Gestalten Dostojewskijs, Gogols, Puschkins - ist Myschkin russischer als der liebenswürdige kleine Petja Rostow, der in den letzten Augenblicken des Krieges noch sterben muss und den man sich so gut als friedliches phantasievolles Großväterchen an einem Kamin vorstellen kann? Möglicherweise sollte man die Methode, den Autor aus seinem Gesamtwerk herauszufinden, auch auf Nationen anwenden: das gesamte Personal ihrer Literaturen, ihrer Politik, ihrer Wirtschaft und Landwirtschaft etc. addieren, aus dieser gewaltigen Summe die siebte Wurzel ziehen - und wäre dann berechtigt, ein Eigenschaftswort wie russisch oder deutsch in Gebrauch zu nehmen. Natürlich reklamieren die Nationen ihre „Gestalten“, und kein Russe wird auch nur auf einen von ihnen verzichten wollen: nicht auf Rasumichin, der so russisch ist wie jeder andere und kein anderer, und nicht auf Levin oder Vronskij, Kuragin und Bolkonskij. Nicht ohne Neid: es ist ein reich bevölkerter Kosmos von Frauen und Männern in der russischen Literatur, bei den deutschen Helden geht’s ein wenig sparsamer zu – aber was ist denn auch nur annähernd typisch russisch, so, dass einer ohne Zögern das Eigenschaftswort anwenden könnte? Betrachte man sich genau, was allein in „Krieg und Frieden“ als typisch deutsch angeboten wird, so bleibt außer dem Volltreffer von Natascha noch genügend Munition. Da wird ein Sprichwort zitiert: „Der Deutsche drischt auch auf dem Beilrücken noch Korn“, und es wimmelt da von deutschen Beratern im Generalstab: Nehme man zum Beispiel den Herrn Pfuel!
              „Pfuel war einer jener hoffnungslos, unerschütterlich, fanatisch selbstbewussten Menschen, wie man sie eben nur unter Deutschen findet, und zwar weil nur bei den Deutschen das Selbstbewusstsein auf einer abstrakten Idee basiert, nämlich der Idee der Wissenschaft, das heißt, des vermeintlichen Besitzes der vollkommenen Wahrheit. Das Selbstbewusstsein des Franzosen beruht auf dem Glauben der unwiderstehlich bezaubernden Wirkung seiner geistigen wie körperlichen Erscheinung auf Männer und Frauen. Das Selbstbewusstsein des Engländers fußt auf der Überzeugung, Bürger des am besten eingerichteten Staates der Welt zu sein und daher, eben als Engländer, immer zu wissen, was er zu tun hat und desgleichen immer zu wissen, dass dasjenige, was er, eben als Engländer, tut, ohne Zweifel gut und richtig ist. Das Selbstbewusstsein des Italieners gründet sich darauf, dass er von Haus aus aufgeregt ist und leicht sich selbst und andere vergisst. Das Selbstbewusstsein des Russen hat seine Wurzeln darin, dass er nichts weiß und nichts wissen will, weil er nicht glaubt, dass man überhaupt etwas wissen könne. Das Selbstbewusstsein des Deutschen aber ist ärger, hartnäckiger und unangenehmer als das aller anderen Völker, eben weil er sich einbildet, er kenne die Wahrheit, das heißt die Wissenschaft, die er sich selbst ausgedacht hat, aber für die absolute Wahrheit hält.“
              „Pfuel wirkt noch typischer als alle diese Deutschen! Einen solchen deutschen Theoretiker, der alles, was diese anderen an sich gehabt hatten, in so prägnanter Weise in sich vereinigte, hatte Fürst Andrej noch nie gesehen.“ Mögen die Engländer, Franzosen und Italiener sich mit ihrer Nationalität-Definition konfrontieren, er steht hier für einen, der einigen Grund hat, sich als Deutscher zu bezeichnen. Erröten sie, schämen die Deutschen sich, oder ärgern sie sich nur, wenn sie das lesen? Kommt es allen Deutschen nicht doch irgendwie - leider eben nur irgendwie - zutreffend vor? Sind nicht die Ideologen und Demagogen der untergegangenen DDR irgendwie die Pleuels des ebenfalls zerbrochenen Ostblocks gewesen, die, die es immer genau, die es besser wussten, die im Besitz der „vermeintlichen Kenntnis“, der „reinen Wahrheit“ waren und „pfueln“ nicht die harten Pragmatiker der Bundesrepublik tüchtig im westlichen Lager herum? Waren nicht die großen Strategen des Eroberungskriegs gegen die Sowjetunion alle mehr oder weniger Pfuels, die gewonnen hätten, wenn - ja, wenn nicht der härteste, strengste Winter seit hundert Jahren gekommen wäre. Aber dieser Winter kam, und er kam auch für die Rote Armee. Es wird niemanden geben, dieses Problem der Nationalitätbezeichnung, der Urteile und Vorurteile auch nur andeutungsweise lösen zu können. Man frage sich nur, ob es nicht besser wäre, Nationalitätbezeichnungen für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen, bis die noch zu erfindenden Computer, die wahrscheinlich zweihundert Kilometer breit sein müssten, mit den entsprechenden Daten gefüttert werden können und dann ein Ergebnis liefern, auf dem die Formel steht für das, was man russisch oder deutsch nennen könnte? Noch hat keine Nation, kein Volk, keine nationale Literatur angefangen, die Adjektive zu überprüfen, mit denen man sich selbst und andere bezeichnet. Man kann sich die Ausdrücklichkeit irgendeiner Nation nicht aussuchen, nicht auf ein paar Autoren oder gar ein paar ihrer Gestalten reduzieren. Literatur im Export ist voller Gefahr der Zufälligkeiten. Heinrich Heine würde wichtiger und deutlicher, wenn man ihn überall in seiner Differenz zu Stifter sehen könnte. In gewissen Teilen der Welt gilt Wagner als deutsche Musik, und was nicht so wagnerisch ist, gilt dann nicht mehr als deutsch. Wann hört ein Deutscher auf, für die Ausländer deutsch zu sein? Wer ist russischer, Tolstoi oder Dostojewskij? Welche beiden Autoren könnten weiter voneinander entfernt sein; ist Poe amerikanischer als Jack London, oder Stifter deutscher als Heine? Und Hölderlin - wer wird die Entfernung zwischen ihm und Heine messen? Ist Stifter nicht gerade in seiner Eigenschaft als der „sanfte Unmensch“, als der ihn Arno Schmidt bezeichnet hat von einer bedrückenden Modernität, seine Beschränkung auf Sachen, auf Steine, Möbel, während die Menschen auf eine gespenstische Weise „verpuppt“ bleiben, nicht schon fast ein ins neunzehnte Jahrhundert vorverlegter Interpretationsvorgang des „Neuen Romans“, und ist Heines Frivolität und Bosheit nicht viel mehr rheinisch als jüdisch? Wann wird eigentlich dieser Wortkontinent „jüdisch“ erforscht?
              Auf weitere Formeln verkürzt: Tolstoi ist der Autor des Landes und der Landwirtschaft, Dostojewskij der Autor der Großstadt. Es gibt kaum eine gelungene Verstofflichung von Land und Landschaft, ihren Menschen, den Tieren als die in „Krieg und Frieden“ eingebaute Wolfsjagd: das ist wohl wirklich Russland, denkt man, und es ist da das andere Russland: Dostojewskijs Kleinbürger und Intellektuelle in den Großstädten. Die irdische Religiosität Tolstois, die metaphysische Dostojewskijs. Man weigere sich und soll sich weiterhin weigern, zwischen den beiden zu wählen. Man nehme sie zusammen und Puschkin, Gogol, Lermontov und viele andere noch dazu und habe dann, bevor der Riesencomputer installiert ist, etwas in der Hand, das man annähernd russisch nennen könnte.
              Tolstoi und Dostojewskij haben auch eine verschiedene Bedeutung und Gegenwärtigkeit selbst zu Zeiten der Sowjetunion gehabt. Puschkin, Gogol und Tolstoi waren wohl die am wenigsten ideologisch umstrittenen, und wen wird es wundern, dass Tolstoi ideologisch der beliebtere war und bleiben wird. Ein Autor, den man - könnte man das Wort noch gebrauchen - als den größten Realisten der russischen Literatur bezeichnen kann, der als junger Mensch, nachdem er Augenzeuge vom Sterben seines Bruders Nikolai gewesen war, während der Beerdigung seines Bruders auf den Gedanken kam, ein materialistisches Evangelium, das „Leben Christi als eines Materialisten“ zu schreiben; ein Autor, von dem kein Geringerer als Lenin gesagt hat: „Bevor dieser Graf zu schreiben begann, gab es in der russischen Literatur keine echten Bauern.“.
              Fünfzig Jahre nach der Revolution, im Jahr des hundertsten Geburtstags Lenins, gab es Anzeichen dafür, dass - nicht etwa Tolstois, Puschkins oder Gogols Zeit vorüber ist - und doch Dostojewskijs Zeit kommt. Die ungeheure Dankbarkeit und der Respekt, den man der Literatur in der Sowjetunion gezollt hat, hatte nicht zur Folge, dass der eine den anderen ablöst - es sah nur so aus, als wurde die längst fällige Ergänzung durch Dostojewskij vollzogen. Das ist nicht immer abhängig von der genehmigten Auflagenhöhe. Manche Manuskripte von Solshenizyn sollen, nicht gedruckt, sondern privat vervielfältigt, in zwanzig- bis dreißigtausend Exemplaren kursiert haben. Das bedeutet einige Hunderttausend Leser. Ein solcher Autor ist, auch wenn er nicht gedruckt wird, präsent, und gewiss ist auch Dostojewskij in der Sowjetunion präsent gewesen. Der Zusammenhang der Dostojewskij-Renaissance mit einer religiösen ist unverkennbar. Ob Ost und West, über die Mauern hinweg, ihre Positionen wechselten? Gewiss nicht in ihrer Administration. Die hat im Westen weiterhin das Banner des Christentums flattern lassen, jedenfalls auch weiterhin nicht einziehen und der Osten hatte offiziell die Flagge des Atheismus gehisst gehalten. Die beiden Fahnen täuschten aber nur die oberflächlichen Beobachter. Und den sozialen Materialismus, der im Westen aufkommt, hat man als Mode abgetan (für diese sozialen Materialisten müsste Tolstoi so etwas wie eine Bibel sein - er, der gesagt hat: „Die Wurzel allen Übels ist das Eigentum“) - wie man die religiöse Renaissance in der Sowjetunion als Mode abgetan hat. An der Verfrontung hat sich überhaupt nichts geändert: die westlichen Fortschrittler hatten die neue Entwicklung in der Sowjetunion als reaktionär abgetan und im Osten hatte man die westlichen Vorstellungen als soziale Illusionen betrachtet.
              Bei der Analyse der zurückliegenden Vorgänge wird ein Werk wie „Die Dämonen“ wichtig sein: die Ermordung Schatovs, die in dem Augenblick erfolgt, wo er ein „neues Leben“ beginnen will, dieses sinnlose intellektuelle Planspiel, als Gehorsamsvehikel, das gleichzeitig magische Bindung durch Blutschuld vollzieht - sie wird sich immer wieder wiederholen. Tolstoi ist der weitaus irdische, materielle, stoffliche. Dostojewskij ist der spirituelle, der „ungemütlichere“ auch, bis in die stofflichen Details, etwa das Verhältnis seiner Hauptgestalten zum Essen; modern ausgedrückt, sind sie alle Imbissstuben-, Würstchenbuden-, Snackbar-Esser, während man bei Tolstoi gern und ausgiebig zu Tisch sitzt.
              Im Russland des neunzehnten Jahrhunderts fielen die großen Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf einen Grund, der vom westeuropäischen völlig verschieden war. Das Verhältnis Russlands zum Humanismus - alle Fragilität, Mißbräuchlichkeit, alle Facetten und Verfälschungen, die der Begriff inzwischen erfahren hat, vorausgesetzt - ist ein vom Westen Europas verschiedenes. Die Geschichte hat diese Worte und Begriffe Russland anders zugetragen, und bis auf den heutigen Tag trägt sich dort alles anders zu. Auch der Begriff der Solidarität hat bis auf den heutigen Tag eine andere Geschichte und andere Selbstverständlichkeiten der Verwirklichung. Man trug und trägt dort seine politische Haft wie hierzulande seine Orden, die Ehrfurcht vor dem Gefangenen hat erst nachgelassen und wird weiter nachlassen mit dem Aufkommen einer neuen Klasse Mensch: dem sowjetischen Spießer, der haben wollte, wonach auch die westlichen Spießer verlangten: „Ruhe, Sicherheit, Ordnung“. Die politischen Häftlinge in Tolstois Auferstehung erkennen sehr wohl in der unglücklichen Maslova das Opfer gesellschaftlicher, also politischer Verhältnisse, und sie sind es letzten Endes, die sie an sich nehmen und befreien, auch sie als politischen Häftling akzeptieren.
              Der Respekt vor Schriftstellern und Intellektuellen ist immer groß gewesen, weil sie es waren, die traditionsgemäß Veränderungen der Herrschaftsverhältnisse betrieben. Der „Selbstverlag“, das privat vervielfältigte und verbreitete Manuskript, das sich der Zensur entzog und doch populär wurde (wie auch u. a. Solschenizyns Manuskripte) hat Tradition, und aus dieser Tradition ergibt sich ein anderes Verhältnis zur Popularität, die westlichen Intellektuellen immer noch suspekt erscheint. Sie werden es nie ganz begreifen, noch weniger exakt analysieren können, schon deshalb nicht, weil sie die Differenzen, die vielen Nuancen zwischen Russland, den übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken und den anderen ehemals sozialistischen Staaten nie ganz wahrnehmen können.
              Annähernd, nimmt man die russische Literatur des neunzehnten Jahrhundert als Ganzes wahr, so etwas wie eine Vorstellung von russisch, und eben in „Krieg und Frieden“ auch nur annähernd, Tolstoi. Es gibt ja noch die ungeheuren Entfernungen, die sich im Gesamtwerk eines Autors verbergen, wie die Spannungen innerhalb des Begriffs „Slawisch“. Ist der Dostojewskij des „Der Spieler“ ein anderer als der der „Brüder Karamasow“? Wo bleibt da jene, mindestens gleichbleibende, möglichst permanent gesteigerte Qualität, die die „Pfuels“ der Literaturkritik von einem Autor fordern? Als Romane sind „Anna Karenina“ und „Auferstehung“ besser als „Krieg und Frieden“, mit seinen vielen Zeigefingern, hinter denen das umfangreiche Personal zeitweise verschwindet.
              Und gewiss haben schon viele kluge Leute die Schwäche des Epilogs festgestellt. Sie haben recht, er ist enttäuschend: Natascha, knapp dreißig, schon zur Matrone geworden, ein recht durchschnittliches, nicht übermäßig, aber angemessen eifersüchtiges Hausmütterchen, und Piere kann man sich gut vorstellen, wie er da mit Nikolai und dem unverwüstlich-sympathischen Denissow, der´s letzten Endes doch zum General gebracht hat, am Feuer sitzt; im Dämmer, mit einer undefinierbaren Kappe auf dem Kopf, könnte er beides zugleich sein: Großväterchen und Großmütterchen. Der ein wenig beschränkte Nikolai an der Seite einer so ungeheuer guten Seele wie Marja Bolkonskaja, die eine hervorragende Äbtissin abgegeben hätte. Und eines Tages wird da der peinliche Berg, auch längst General, hereinspazieren, und, wie man ihn kennt, wird er den Verlust jener „entzückenden Kommode“, die im brennenden Moskau zurückblieb, beklagen und wird diesen Verlust gleichzeitig ein wenig als Heldentat genießen.
              Nach so viel Aufwand, Erregung, Leiden und Leidenschaft endet alles so schrecklich normal. Hat da einer letzten Endes doch mit sehr viel Kanonen nur ein paar Spatzen erlegt? Wird man sich nach dem reichlichen Essen nur die Weste aufknöpfen und ein bisschen auf die Regierung schimpfen? Wird nicht am Ende sogar die weibliche Leserin die Lust verlieren, sich noch mit dieser Natascha zu „identifizieren“? So wie der männliche Leser kaum noch Neid auf Pierre empfindet? Natürlich bleibt da allerletzten Endes der kleine Nikolenka Bolkonskij, der von seinem Vater träumt und von Pierre schwärmt und der Großes vollbringen möchte, neue Hoffnung, neuer Anfang. Es kommt einen dieser Epilog wie ein bewusst gezielter Schlag vor, ein nasses Handtuch. Wäre Tolstoi überhaupt in der Lage gewesen, Kitsch zu produzieren, so hätte er es wahrscheinlich bewusst kitschig gemacht wie den vorgesehenen Titel: „Ende gut – alles gut“! Doch nicht einmal der Epilog ist kitschig, er ist ganz bewusst anti-idealistisch und mag dem Wunsch des Autors entsprechen, wenigstens in seinem Werk etwas zu verstofflichen, was er nie fand: Alltäglichkeit. Für einen so wenig alltäglichen Menschen wie Tolstoi muss diese Alltäglichkeit ein Traum gewesen sein, wie es für alltägliche Menschen ein Traum sein mag, „das Leben eines Künstlers“ zu führen, und diese normale Ehealltäglichkeit am Ende des Romans ist ja auf eine sehr bittere Weise in den davor liegenden Teilen des Romans in Frage gestellt. „Eine böse Sache, was?“
              „Was soll böse sein, Väterchen?“
              „Die Frau“ sagte der alte Fürst kurz und mit Nachdruck.
              „Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Fürst Andrej.
              „Da ist nichts zu machen, Freundchen“, sagte der alte Fürst. „Alle sind sie sich gleich, und scheiden lassen kann man sich nicht. Keine Angst, ich sage es niemand. Und du weißt es ja selbst“.
              Diese Anspielung auf Andrejs Verhältnis zu seiner Frau Lisa ist sarkastisch und treffend. Und hat man, wenn man dieses Happyend liest, vergessen, dass Natascha tatsächlich bereit war, sich als Verlobte Andrejs von einem Schurken wie Anatol Kuragin entführen zu lassen? Es bleibt genug, diesem glücklichen Ende nicht ganz zu trauen. Vielleicht soll an diesem glücklichen Ende auch angedeutet werden, dass die Geschichte, große und kleine Kriege, für die, die daran teilnahmen und überlebten, zu einem kümmerlichen Gesprächsstoff zusammenschrumpft. Wenn die Kriege lange genug dauern, werden aus Hauptleuten eben Obristen und Generäle, und selbst der streitbare Denissow, der für seine hungernden Soldaten Lebensmittel raubte, im Lazarett fast verelendete, überraschenderweise zeitweise zum Querulanten wird - auch er endet in Gemütlichkeit. Dieses Ende ist gar nicht so happy, mag's auch so gemeint gewesen sein. Wenige Jahre bevor er an die Niederschrift von „Krieg und Frieden“ ging, hat Tolstoi in einem Brief geschrieben: „Um anständig zu leben, soll man sich selbst anstrengen, verstrickt werden, ringen und kämpfen, Fehler machen, anfangen und aufgeben, wieder beginnen und aufgeben und ständig kämpfen und sich selbst berauben. Friede und Ruhe ist nichts weiter als Niedrigkeit der Seele“. Vielleicht ist dieses Zitat, das sich um viele gleichbedeutende erweitern ließe, der einzig mögliche Kommentar zum glücklichen Ende von „Krieg und Frieden“.
              Es gäbe viel über die Person Tolstoi zu sagen, über sein Verhältnis zu „Größe“, das er an Napoleon expliziert, über seine Haltung zum „Krieg“, den er wie eine blutige und absurde Lächerlichkeit sieht, wiederum verkörpert für ihn in der Lächerlichkeit Napoleons, dessen Aktivität in der Passivität des brennenden Moskau gelähmt wird; über Tolstoi und den Westen, den Katholizismus (Helene Kuragins allerletzte Verworfenheit besteht schließlich darin, dass sie auch noch katholisch wird). Biographisches wäre anzumerken, Tolstois ständige Erduldung des Gegensatzes zwischen Leben, Werk und Lehre, in diesem Dreieck riss es ihn dauernd hin und her, und wenn „Frieden und Ruhe nichts weiter als Niedrigkeit der Seele“ sind, dann war seine Seele alles andere als niedrig. Er war kein Olympier, obwohl man ihn gern auf einige Throne gesetzt hätte, und er starb schließlich wie eine Dostojewskij-Gestalt: ganz und gar unweise, von den Widersprüchlichkeiten seines Lebens zerrissen, und es blieb ihm, auch nach dem Tode, nichts erspart; die Tür seines Eheschlafzimmers wurde weit geöffnet, sein Betttuch gelüpft; mehr Missverständnisse und unglückselige Verkennung, auch Misstrauen, als zwischen ihm und seiner Frau, ihm und dem größeren Teil seiner Familie, ihm und seinen Jüngern, seinen Anhängern, den Tolstoianern, kann es kaum geben. Nichts, nichts blieb ihm erspart. Keine Spur, nicht der Schimmer einer Andeutung von einem glücklichen Ende.
              Wurde die Neugier gestillt, der Verfasser gefunden, sein Versteck aufgestöbert? Wo und worin steckt er? In Bolkonskij, in Pierre, in Anatol Kuragin etwa, in den beiden Nechljudovs (zweimal im „Marquer“ und in „Auferstehung“, gibt er seinen Helden diesen Namen), steckt er in Levin, der mit seiner Kitty ähnlich glücklich endet wie Pierre mit Natascha? Hat er sich in Kutusows Rockaufschlag versteckt oder in Bagrations Tabaksbeutel? In Speranski, dem zaristischen Chefideologen? Bei Nataschas Onkel, wo die selige Wolfsjagd selig endet? Wo ist dieser Autor, dieser Mensch, von dem bekannt ist, dass er im Bett eines Bahnwärters starb, vom Ruhm verfolgt und von der Reflexion des Ruhms auf seine Familie getötet. Darf man vorschlagen, dass alle ihn in Frieden lassen? Ihm gestatten, gewesen zu sein, nicht nur in Werk, Leben und Lehre, was schon ausreichen würde, gespalten auch noch in Bolkonskij, Besuchow, Levin und Oblonski, mit „Zügen“, möglicherweise sogar von Vronskij, einem „Anflug“ von Speranskij, zwei Nechljudovs und etwa dreihundert anderen.
              Und müsste man ihm nicht gerechterweise auch die Chance geben, sich in einigen Frauen versteckt zu haben und versteckt zu halten. Genügt es nicht zu wissen, dass ihm nichts erspart blieb, nicht einmal - was er als Ehre empfunden haben wird - die öffentliche Exkommunikation durch die russisch-orthodoxe Kirche? Die Neugier ist jedenfalls gestillt, und bevor man sich hoffnungslos „verpfuelt“, gibt es jetzt das letzte Wort; was Tolstoi über Menschen gesagt hat, könnte auf Nationen angewendet, vielleicht weiterhelfen: „Es ist ein sehr gewöhnlicher und sehr weit verbreiteter Aberglaube, dass jedes menschliche Wesen gewisse endgültige Eigenschaften habe, dass wir entweder gut oder schlecht seien, klug oder dumm, energisch oder passiv usw. Aber die Menschen sind nicht so. Wir können sagen, dass ein bestimmter Mensch öfter gut als schlecht ist, öfter klug als dumm, öfter energisch als passiv und umgekehrt, aber es wäre unrichtig, von irgendeinem einzelnen Menschen zu sagen, er sei einfach gut oder klug, schlecht oder dumm. Aber so klassifizieren wir dauernd die Menschen - und das ist falsch. Menschliche Wesen sind wie Flüsse - das Wasser, das in ihnen allen fließt, ist in jedem Fall das gleiche, aber jeder Fluss ist an einer Stelle schmal, an einer anderen breit, manchmal ruhig oder klar oder kalt, manchmal trüb und ein andermal wieder warm. Und Menschen sind genauso. Jeder Mensch hat die Keime aller menschlichen Eigenschaften in sich, alle kommen zu verschiedenen Zeiten zum Vorschein, und oftmals wird er sich charakterlos benehmen, trotzdem ist er immer noch die gleiche Person. Bei manchen Menschen sind solche Umschläge sehr plötzlich.“ (wie in „Auferstehung“.) Vielleicht ist das ein Annäherungsversuch an sich selbst; vielleicht nicht einmal der beste, und - wie manche Leserin und mancher Leser denken wird - zu „einfach“. Gewiss war Tolstoi selbst viel, viel komplizierter als dieser sein Annäherungsversuch an eine Definition des Menschlichen. Er war sich selbst unerklärlich!

                         Das ist eine kleine Ergänzung von Klaus Haberland zum Nachwort von Heinrich Böll zur Ausgabe von „Krieg und Frieden“ 1975



Montag, 5. September 2016

Wir haben gewählt ...

   ... man, Alder, das war mehr als eine kleine Landtagswahl, das war eine Frau Angela Merkel-Wahl: Ein Proteststurm hat die CDU im Nordosten hinter die AfD abrutschen lassen. Ein Debakel für unsere Kanzlerin, und für uns alle, was die Meisten aber noch nicht wissen. Politisch betrachtet ist Vorpommern eine Miniatur von einem Teil-Bundesland, nahezu gänzlich ohne Bedeutung. Normalerweise! Bei dieser Wahl aber war das anders. Denn diese Landtagswahl war im Grunde genommen eine Kanzlerwahl, oder genauer: eine
Angela Merkel-Wahl. Das macht sie so bedeutsam. In Mecklenburg-Vorpommern hat Angela Merkel ihren Bundestagswahlkreis; die Rechtspopulisten von der AfD haben quasi im Wohnzimmer der Kanzlerin einen Aufstand der Wähler angezettelt, sie haben die Landtagswahl von Beginn an zur Ein – Thema – Wahl gemacht: gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Und damit haben sie an diesem Wahlsonntag die CDU zur drittstärksten Partei hinter SPD und AfD degradiert. Das ist das prekäre Symbol des Abends: Die Anti-Merkel-Partei landet erstmals bei einer Wahl vor der Merkel-Partei. In Teilen Rügens - also in Merkels Wahlkreis - ist die AfD wohl sogar stärkste Partei (Zweitstimmen).
Für die Kanzlerin ein politisches Debakel. Was folgt daraus? Dass Merkel nun vor einer mindesten ebenso großen Herausforderung steht wie einst ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder: Der musste erstens seiner Partei die Agenda-Sozialreformen erklären und sich zweitens einer aus Protest gegeben diese Reformen erstarkenden Linken erwehren. In beiden Fällen scheiterte er am Ende. Für Merkel muss es nicht so laufen. Denn Mecklenburg-Vorpommern ist erst mal nur als politisches Symbol ein Debakel, um Merkels Kanzler-Macht geht es (noch) nicht. Was dieser Sonntag aber deutlich macht: Dass sich, zumal im Osten,immer mehr Wähler vom etablierten demokratischen Parteiensystem entkoppeln; dass es dabei keine Rolle spielt, ob es wirtschaftlichen Aufschwung, neue Fußgängerzonen oder viele Touristen gibt (im Nordosten alles vorhanden); und dass es einer Partei gelungen ist, Ängste vor Flüchtlingen zu schüren, obwohl nur sehr wenige im Land leben, diese aber immer recht konzentriert und auffällig, und mitunter alles andere als zurückhaltend. Kurzum: Dass hier Gefühl über Verstand gesiegt hat. Fakten? Zählen nicht. Für unsere Angela Merkel, die immer so gern kühl mit Zahlen und Fakten argumentiert, liegt in den nächsten Monaten genau darin die Herausforderung. Sie wird mehr erklären, mehr kommunizieren, Politik einen wärmenden, sinnstiftenden Rahmen geben müssen, um ihre tief verunsicherte Partei auf Kurs zu halten. Möglicherweise wird sie sich auch rhetorisch auf die Schwesterpartei zubewegen, vielleicht Fehler in ihrer Flüchtlingspolitik eingestehen müssen. Schon am Wahlabend spricht CSU-Kronprinzchen Markus Söder ja nicht zufällig von einem Weckruf für die Union. Er meint: Weckruf für die Kanzlerin. Der neuerliche Erfolg der AfD wird den Ärger der CSU gegen Merkel befeuern. Denn in der CSU wissen sie nur zu gut, dass ihr altes Dogma, dass es rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben darf, spätestens mit diesem Wahlsonntag passé ist. Die Union hat nun mit der AfD das Linkspartei-Problem der SPD. 
Die Rechtspopulisten sind jetzt in der Fläche präsent, in West wie Ost. Und so schnell werden sie nicht wieder verschwinden. In Mecklenburg-Vorpommern haben sie vor allem frühere Nichtwähler mobilisiert und zu ähnlich großen Teilen einstige SPD-, CDU- und Linke-Wähler abgezogen. Heißt: Die AfD ist nicht allein das Problem der Union, aber es ist die Wut auf die Kanzlerin, die dieses bunte Elektorat (Wählerschaft) eint. Und anders als die alte, pragmatische Protestpartei DIE LINKE ist die neue, wütende Protestpartei AfD nicht über Koalitionen auf Landes-Ebenen einzubinden. Die AfD ist eine Partei gegen das bestehende Parteiensystem, sie will sich nicht einfügen, sondern sie will Unruhe stiften, sabotieren. Mit den Rechtspopulisten ist kein Staat zu machen. Darin steckt die große Gefahr für die Demokratie.
Die bösen Geister, die Merkel mindestens bis zur Bundestagswahl im kommenden Jahr verfolgen werden, sind somit nicht nur Problem und Gefahr für die Unionsparteien, sondern auch für die Republik.
Also weiter Große Koalition. Für Sellering und Caffier mag das eine angenehme Perspektive sein, für ihre Parteifreunde auf der Bundesebene ist es das kaum. Denn dass CDU und SPD einfach weiterregieren, obwohl so viele Wähler sie abgestraft haben, dürfte auf wenig Begeisterung stoßen. Die Gefahr ist, dass die AfD weiter zulegt. Noch am Sonntagabend in Schwerin sprachen die Rechtspopulisten davon, dass sogar bei der Abgeordnetenhauswahl im eher linken Berlin ein Ergebnis von mehr als 35 Prozent drin sei. In knapp zwei Wochen wird in der Hauptstadt gewählt, auch dort regiert derzeit eine Große Koalition. SPD-Noch-Bürgermeister Michael Müller würde diese gerne durch Rot-Rot-Grün ersetzen. Doch das Ergebnis in Mecklenburg-Vorpommern muss auch ihm Sorgen machen.
Obwohl die AfD ihr Hybris-Ziel, stärkste Kraft zu werden, am Sonntag verpasste: Petry, Gauland und Co. haben die Parteienlandschaft verändert. Die alte Regel, wonach entweder die Union oder die linken Parteien die Schwäche der jeweiligen Gegenseite ausnutzen, gilt nicht mehr. In Mecklenburg-Vorpommern profitierte nur die AfD. Alle anderen Parteien haben verloren.
Zu den großen Stärken unserer Angela Merkel gehörte, dass sie wusste, ihre Emotionen zu kontrollieren. Ihr Aufstieg von einer ostdeutschen Wissenschaftlerin zur deutschen Regierungschefin gelang nur deshalb, weil sie es verstand, die Attacken ihrer Gegner mit stoischer Ruhe wegzustecken, statt mit blinder Wut zurückzuschlagen. Mit dieser emotionalen Disziplin setzte sie sich erst in der CDU durch. Dann besiegte sie den Schröder, Gerhard, der sich mit seinem Wutausbruch nach der Bundestagswahl 2005 selbst den Todesstoß versetzte.
Merkels ehemaliger Generalsekretär Pofalla entwickelte eine Wahlkampfstrategie, die zu Merkels Affektkontrolle passte. Normalerweise ist die Attacke der Modus des Wahlkämpfers. Pofallas "asymmetrische Demobilisierung" dagegen fußt auf der Idee, dem Gegner die Themen wegzunehmen und so freundlich aufzutreten, dass das linke Lager gar nicht mehr so recht weiß, warum es zur Wahl gehen soll. Für Merkel war die Strategie enorm erfolgreich. Ihre Wahlsiege gegen Dr. Seinmeier 2009 und Dr. Steinbrück 2013 sind ohne sie nicht zu verstehen.
Nun funktioniert sie erkennbar nicht mehr. In Mecklenburg-Vorpommern liefen auch einige CDU-Anhänger zur AfD über. Und ehemalige Nichtwähler fühlten sich ermuntert, vom Sofa aufzustehen und ihren Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik an der Wahlurne zum Ausdruck zu bringen. Die Kanzlerin mobilisierte - nur eben nicht das eigene Lager, sondern ihre Gegner. Sie, die so lange das Land sediert hatte, schürt nun das Feuer der Empörung. Der Fehler ist gemacht!
Nun kann Merkel an den Entscheidungen des Sommers 2015 nichts mehr ändern. Sie hat, und das war richtig, in einer Ausnahmesituation die Tür für verzweifelte Menschen aufgemacht. Danach aber fand sie keinen Weg, den Strom der Flüchtlinge in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Aber auch das ist Geschichte, oder, um mit Franz Müntefering zu sprechen: Der Fehler ist gemacht.
Jetzt kommt es darauf an, die Flüchtlinge, die im Land sind, vernünftig zu integrieren. Und diejenigen Bürger, die Merkels Willkommenskultur ablehnen, nicht den Populisten zu überlassen. Hier liegt Merkels große Schwäche. Man mag es als Zeichen von Standfestigkeit sehen, dass sie unmittelbar vor den Landtagswahlen in zwei großen Interviews ihre Flüchtlingspolitik noch einmal mit heiligem Ernst verteidigte. Und es ist menschlich verständlich: Wer erlebt hat, wie Merkel im Wahlkampf beschimpft wird für ihren Kurs, wie Straßengröler "Volksverräterin" rufen, sobald sie aus dem Auto steigt, dem nötigt ihre Sturheit Respekt ab.
Aber ist sie auch klug? Noch nie in ihrer Kanzlerschaft stand Merkel unter größerem Druck und ausgerechnet jetzt fängt sie an, Politik aus dem Bauch zu machen. Je unmäßiger die Kritik an ihr wird, umso mehr Pathos verwendet sie, um sich zu rechtfertigen, was wiederum ihre Gegner anstachelt. Es ist ein Teufelskreis.
Zu den großen Leistungen der Union gehörte, dass sie es über Jahrzehnte schaffte, das rechte Spektrum zu integrieren. Nun sieht es so aus, als könnte mit der AfD eine rechtspopulistische Volkspartei entstehen, mit unabsehbaren Folgen für die politische Kultur in Deutschland. Noch lässt sich das verhindern. Aber wenn Merkel nicht den nötigen Pragmatismus aufbringt, der nötig ist im Kampf gegen die AfD, wird die Kanzlerin zu einer Belastung für die Union.
 

Donnerstag, 28. Juni 2012

„… schmeißt die Griechen aus dem €uro…!“


Gedanken zum derzeitigen Lieblingsthema in der Politik: „… schmeißt die faulen Griechen endlich aus dem €uro…!“. – Griechenland, Wiege der Demokratie! 
Ich habe einfach mal versuchtdie konkrete Situation zwischen Deutschland und Griechenland und in Deutschland und in Griechenland etwas exemplarisch zu fassen. Die einzelnen Analyse-Diskussionen kann ja dann Jeder eigenständig und differenziert führen.
Ganz Allgemein gesagt, alle älteren Anschauungen über das gesellschaftliche Leben der Menschen sind vom Gedanken der Bestimmung des Menschen und des Menschengeschlechtes beherrscht. Die Gesellschaft reift einem Ziel entgegen, das ihr von der Gottheit gesetzt ist. Wer so denkt, ist logisch im Recht, wenn er von Fortschritt und Rückschritt, von Revolution und Gegenrevolution, von Aktion und Reaktion mit der Betonung spricht, die diese Begriffe bei vielen modernen Historikern und Politikern haben. Die Geschichte wird gewertet, je nach dem sie die Menschheit das Ziel näherbringt oder sie davon entfernt, so weit, so klar!
 Aber, die Sozialwissenschaft fängt dort an, wo man sich bei der Betrachtung der menschlichen Dinge von dieser und überhaupt von aller Wertung befreit. Auch die Sozialwissenschaft ist in dem Sinne teleologisch (Handlungen überhaupt oder Entwicklungsprozesse), in dem es jede kausale Betrachtung des Willens sein muss. Doch ihr Zweckbegriff ist ganz in die Kausalerklärung einbezogen. Die Kausalität bleibt für sie das Grundprinzip der Erkenntnis, dessen Hochhaltung auch durch die Teleologie kein Abbruch geschehen darf. Sie wertet die Zwecke nicht; sie vermag daher auch nicht, von Höherentwicklung und von Vervollkommnung in dem Sinne zu reden, in dem dies etwa Hegel und Marx tun. Für sie ist es durchaus nicht ausgemacht, dass alle Entwicklung in die Höhe führt, dass jede spätere Stufe eine höhere ist. Ebenso wenig vermag sie freilich auch im geschichtlichen Prozess nach Art der pessimistischen Geschichtsphilosophien einen Abstieg, eine fortschreitende Annäherung an ein böses Ende, zu erblicken. Die Frage nach den treibenden Kräften der geschichtlichen Entwicklung ist die Frage nach dem Wesen der Gesellschaft und nach dem Ursprung und den Ursachen der Veränderungen der Gesellschaftsverhältnisse. Was ist Gesellschaft, wie wird Gesellschaft und wie verändert sich Gesellschaft, das können allein die Probleme sein, die sich die Wissenschaft der Soziologie hier stellt. Also, an unserem exemplarischen Beispiel gibt es kein oben und demzufolge auch kein unten, weder Griechenland noch Deutschland sollten und dürfen mit diesen Begriffen tituliert, geschweige dann auch noch bewertet werden.
Dass das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen dem biologischen Prozess gleiche, ist eine alte Beobachtung. Es brachte der Wissenschaft von der Gesellschaft wenig Gewinn, dass man diese Analogie im 19. Jahrhundert unter dem frischen Eindruck der großen Erfolge der Biologie in umfangreichen Werken bis zur Lächerlichkeit ausführte. Was für einen Wert sollte es für unsere heutige Erkenntnis haben, wenn man z. B. darüber streitet, welches Organ des sozialen Körpers dem Zentralnervensystem entspreche? Das zutreffendste Urteil über diese Art, Soziologie zu treiben, hat jener Nationalökonom gefällt, der meinte, wer das Geld mit dem Blute und den Kreislauf des Geldes mit dem Kreislauf des Blutes vergleicht, habe für die Nationalökonomie dasselbe geleistet, was einer, der das Blut mit dem Geld und den Kreislauf des Blutes mit dem des Geldes vergleichen wollte, für die Biologie leisten würde. Die moderne Biologie hat der Sozialwissenschaft einige ihrer wichtigsten Begriffe, so den der Entwicklung, den der Arbeitsteilung und den des Kampfes ums Dasein entlehnt. Aber sie ist nicht bei metaphorischen Redensarten und Analogieschlüssen stehen geblieben, ist vielmehr zu fruchtbarer Verwertung des übernommenen Gutes vorgeschritten, während die biologische Soziologie mit den nachher rückentlehnten Begriffen ein nutzloses Spiel mit Worten trieb. Noch weniger hat für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge die romantische Richtung mit ihrer „organischen“ Staatsauffassung geleistet. Indem sie mit Absicht darauf ausging, das wichtigste Ergebnis, das die Sozialwissenschaft bis dahin zutage gefördert hatte, das System der klassischen Nationalökonomie, achtlos beiseite zu schieben, verstand sie es nicht, jenen Teil dieses Systems, der den Ausgangspunkt aller Soziologie bilden muss wie er den Ausgangspunkt der modernen Biologie bildet, die Lehre von der Arbeitsteilung, für die Fortentwicklung der Wissenschaft nutzbar zu machen.
Das eine hätte der Vergleich mit dem biologischen Organismus die Soziologie lehren müssen, dass der Organismus nur als System von Organen denkbar ist. Das aber besagt nichts anderes, als dass die Arbeitsteilung das Wesen des Organismus ausmacht. Die Arbeitsteilung erst bewirkt, dass aus Teilen Glieder werden, in deren Zusammenwirken wir die Einheit des Systems, den Organismus, erkennen. Dies gilt sowohl vom Leben der Pflanzen und Tiere als auch von der Gesellschaft. Soweit das Prinzip der Arbeitsteilung reicht, kann man den sozialen Körper mit dem biologischen vergleichen. Die Arbeitsteilung ist somit das tertium comparationis (Gemeinsamkeit zweier verschiedener, miteinander zu vergleichender Gegenstände oder Sachverhalte) des alten Gleichnisses.
Noch einmal, zum mitschreiben: die Arbeitsteilung also, ist ein entscheidendes Grundprinzip alles Lebens. Es ist zuerst für das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens als Arbeitsteilung in der menschlichen Wirtschaft von den Nationalökonomen aufgezeigt worden und wurde später von der Biologie übernommen. Doch dass wir in der Arbeitsteilung ein allgemeines Gesetz zu erblicken vermögen, darf uns nicht hindern, die großen grundsätzlichen Verschiedenheiten zu erfassen, die zwischen der Arbeitsteilung in dem tierischen und pflanzlichen Organismus einerseits und der im Zusammenleben der Menschen andererseits bestehen. Wie auch immer wir uns das Werden, Fortschreiten und den Sinn der physiologischen Arbeitsteilung denken wollen, es ist klar, dass wir damit noch nichts für die Erkenntnis des Wesens der soziologischen Arbeitsteilung gewonnen haben. Der Prozess, der die weitestgehend homogenen Zellen differenziert und integriert, ist von dem, der aus autarken Individuen die menschliche Gesellschaft hat erwachsen lassen, durchaus verschieden. Bei diesem wirken Vernunft und Willen der sich in einer höheren Einheit zu Gliedern eines Ganzen zusammenschließenden Einheiten mit, Kräfte, deren Eingreifen wir uns bei jenem nicht zu denken vermögen. Auch dort, wo Tiere sich wie die Ameisen oder Bienen zu „Tierstaaten“ zusammenschließen, vollziehen und vollzogen sich alle Bewegungen und Veränderungen Instinkt- und triebartig. Instinkt und Trieb mögen wohl auch am Ausgangspunkt und in der frühesten Geschichte der gesellschaftlichen Bildung stehen. Als denkendes und wollendes Wesen tritt der Mensch schon als Glied einer gesellschaftlichen Bindung auf, weil der denkende Mensch als verlorenes Einzelwesen gar nicht vorstellbar ist. „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch.“ (Fichte.) Die Entwicklung der menschlichen Vernunft und die der menschlichen Gesellschaft sind ein und derselbe Prozess. Alle Weiterbildung der gesellschaftlichen Beziehung ist durchaus Willenstatsache. Gesellschaft wird somit gedacht und gewollt. Sie ist nicht außer im Denken und Wollen. Ihr Sein liegt im Menschen drin, nicht in der Außenwelt; es wird von innen nach außen projiziert.
Gesellschaft ist Miteinander handeln, ist Gemeinschaft im Handeln.
Die Gesellschaft ist ein Organismus, bedeutet: Gesellschaft ist Arbeitsteilung. Man hat an alle menschliche Zielsetzung und an die Wege, auf denen diese Ziele zu erreichen sind, zu denken, wenn man diesem Begriff voll gerecht werden will. Dann fällt jedes Sich aufeinander beziehen denkender und wollender Menschen darunter. Der moderne Mensch ist nicht nur in dem Sinne Gesellschaftsmensch, dass er in Bezug auf die Güterversorgung nicht als isoliertes Wesen gedacht werden kann, sondern auch in dem, dass die Entwicklung, die seine Vernunft und sein Empfindungsvermögen vollzogen haben, nur in der Gesellschaft möglich war. Der Mensch ist als isoliertes Wesen nicht zu denken, weil Menschtum nur als Gesellschaftserscheinung besteht und weil sich die Menschheit über die Tierheit nur in dem Maße hinaushob, in dem sich die gesellschaftliche Bindung der Einzelwesen durch Kooperation ausgestaltet hat. Der Weg vom Menschentier zum Menschen ist nur durch den gesellschaftlichen Zusammenschluss und in ihm zurückgelegt worden. Der Mensch erhebt sich so weit über das Tier, als er vergesellschaftet ist.
Wir sind aber noch weit entfernt davon, das letzte und tiefste Geheimnis des Lebens, das Prinzip der Entstehung von Organismen, zu begreifen. Wer weiß, ob wir überhaupt jemals dazu gelangen werden? Was wir heute allein einzusehen vermögen ist, dass die Bildung von Organismen aus Individuen ein Neues hervorbringt, das früher nicht gewesen ist. Die pflanzlichen und tierischen Organismen sind nicht Summen von Einzelzellen, sie sind mehr als das, und nicht anders ist das Verhältnis der Gesellschaft zu den Individuen. Noch haben wir die ganze Bedeutung dieser Tatsache nicht begriffen. Unser Denken ist in der mechanischen Vorstellung der Erhaltung der Kraft und der Materie befangen, die uns nie zu erklären vermag, wie aus eins zwei werden kann. Wieder wird die Erkenntnis der sozialen Gestaltung der biologischen vorausgehen müssen, wenn wir unsere Einsicht vom Wesen des Lebens werden erweitern wollen.
Geschichtlich stehen am Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwei natürliche Tatsachen: Die individuelle Ungleichheit der menschlichen Anlagen und die Verschiedenheit der äußeren Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche. Diese beiden Tatsachen sind in Wahrheit eins: die Mannigfaltigkeit der Natur, die sich nicht wiederholt und das Weltall mit seinem unendlichen, sich nie erschöpfenden Reichtum an Spielarten hervorbringt. (Und diese natürliche Tatsache selbst, die wir in der soziologischen Betrachtung als Gegebenheit hinzunehmen haben, ist das Ergebnis eines in der Natur vorgegangenen Prozesses der Differenzierung und Integrierung, der der Erklärung durch dasselbe Prinzip harrt, das zur Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung dienen soll.) Allein die Besonderheit unserer Untersuchung, die auf soziologische Erkenntnis hinarbeitet, rechtfertigt, dass wir eine Zerlegung dieses einheitlichen natürlichen Tatbestandes in zwei vornehmen.
Es ist ohne weiteres zu erkennen, wie diese beiden Tatsachen das menschliche Verhalten beeinflussen müssen, sobald es zur bewussten Tat, zu klarem Wollen und zu folgerichtigem Handeln, wird. Sie drängen den Menschen die Arbeitsteilung geradezu auf. Alt und Jung, Männer und Weiber, verbinden sich im Handeln, indem sie die Verschiedenheit ihrer Kräfte entsprechend verwerten. Darin liegen auch schon der Keim örtlicher Arbeitsteilung, wenn der Mann auf die Jagd geht und die Frau zur Quelle, um Wasser zu holen. Wären die Anlagen und Kräfte aller Individuen und die äußeren Produktionsbedingungen allenthalben gleich gewesen, der Gedanke der Arbeitsteilung hätte nie entstehen können. Der Mensch wäre nie darauf gekommen, sich den Kampf ums Dasein durch arbeitsteilende Kooperation zu erleichtern. Aus ganz gleich veranlagten Menschen auf einer durchaus gleichförmig gestalteten Erdoberfläche wäre kein gesellschaftliches Leben entstanden. Die Menschen hätten sich vielleicht zur Bewältigung von Arbeit zusammengeschlossen, für die die Kräfte des einzelnen nicht ausreichten. Doch derartige Bundesgenossenschaften sind noch keine Gesellschaft. Die flüchtigen Beziehungen, die sie schaffen, sind nicht von Bestand; sie dauern nicht länger als der Anlass, der sie hervorgerufen hat. Für die Entstehung gesellschaftlichen Lebens haben sie nur insofern Bedeutung, als sie eine Annäherung zwischen den Menschen herbeiführen, die die wechselseitige Erkenntnis der Verschiedenheiten der natürlichen Veranlagung der einzelnen und damit die Entstehung der Arbeitsteilung fördert.
Sobald aber einmal die Arbeitsteilung einsetzt, wirkt sie selbst weiter differenzierend auf die Fähigkeiten der vergesellschafteten Menschen. Sie ermöglicht die Ausbildung der individuellen Begabung und macht so die Arbeitsteilung immer ergiebiger. Durch das gesellschaftliche Zusammenwirken der Menschen werden Werke vollbracht, die der einzelne überhaupt nicht vollbringen könnte, und bei jenen Leistungen, die auch von einzelnen unternommen werden können, wird ein besseres Ergebnis erzielt. Doch mit dieser Feststellung ist die gesellschaftliche Bedeutung der Zusammenarbeit noch nicht vollkommen umschrieben. Dies entsteht erst aus der Feststellung der Bedingungen, unter denen die durch die Zusammenarbeit bewirkte Ertragssteigerung steht.
Zu den wichtigsten Leistungen der klassischen Nationalökonomie gehört die Lehre von der internationalen (Du siehst, wir nähern uns unserem Thema) Arbeitsteilung. Sie zeigt uns, dass, solange aus nichtwirtschaftlichen Gründen Wanderungen von Kapital und Arbeit von Land zu Land unterbunden sind, für die örtliche Arbeitsteilung nicht die absolute Höhe der Produktionskosten, sondern die relative maßgebend ist. Wendet man das gleiche Prinzip auf die persönliche Arbeitsteilung an, dann ergibt sich ohne weiteres, dass für den einzelnen nicht nur die Verbindung mit solchen Personen von Vorteil ist, die ihm in der einen oder anderen Richtung überlegen sind, sondern auch mit solchen, die ihm, in jeder in Betracht kommenden Hinsicht nachstehen. Wenn z. B.: der Frank dem Jürgen in der Weise überlegen ist, dass er zur Erzeugung einer Einheit der Ware „Torschließanlagen“ drei Stunden Arbeit benötigt gegen fünf, die Jürgen dazu braucht, und zur Erzeugung einer Einheit der Ware „Metallbauzaunfelder“ zwei Stunden gegen vier Stunden, die Jürgen braucht, dann ist es für Frank vorteilhafter, seine Kraft auf die Erzeugung von „Metallbauzaunfelder“ zu beschränken und die Erzeugung von „Torschließanlagen“ dem Jürgen zu überlassen. Wenn jeder von ihnen je 60 Stunden der Erzeugung von „Torschließanlagen“ und „Metallbauzaunfelder“ widmet, dann ist das Ergebnis dieser Arbeit für Frank: 20 „Torschließanlagen“ + 30 „Metallbauzaunfelder“, für Jürgen lediglich: 12 „Torschließanlagen“ + 15 „Metallbauzaunfelder“, mithin für beide zusammen: 32 „Torschließanlagen“ + 45 „Metallbauzaunfelder“. Beschränkt sich jedoch Frank auf die Erzeugung von „Torschließanlagen“ allein, dann erzeugt er in 120 Stunden 60 Einheiten, während Jürgen, wenn er sich auf die Erzeugung von „Metallbauzaunfelder“ beschränkt, in der gleichen Zeit 24 Einheiten erzeugt. Das Ergebnis ihrer Tätigkeit ist dann: 24 „Torschließanlagen“ + 60 „Metallbauzaunfelder“, was, da „Torschließanlagen“ für Frank einen Substitutionswert von 1,5 „Metallbauzaunfelder“ und für Jürgen einen solchen von 1,25 „Metallbauzaunfelder“ hat, d. h.: einen höheren Ertrag bedeutet als 32 „Torschließanlagen“ + 45 „Metallbauzaunfelder“. Es erhellt mithin deutlich, dass jede Erweiterung der persönlichen Arbeitsgemeinschaft für alle, die sich ihr anschließen, von Vorteil ist. Und jetzt kommt’s: Nicht nur der, der sich mit Begabteren, Fähigeren, Fleißigeren zusammenschließt, zieht aus der Verbindung Gewinn. Auch der, der sich mit weniger Begabten, Unfähigeren, Fauleren vereinigt, hat davon Vorteil. Der Nutzen der Arbeitsteilung ist stets ein wechselseitiger, nicht nur dann, wenn durch sie Werke geschaffen werden, die der isoliert arbeitende, Einzelmensch nie hervorbringen könnte!
Die höhere Produktivität der arbeitsteilig verrichteten Arbeit ist es, die die Menschen dazu bringt, einander nicht mehr als Konkurrenten im Kampfe ums Dasein anzusehen, sondern als Mitglieder zur gemeinschaftlichen Förderung ihrer Wohlfahrt. Sie macht aus Feinden Freunde, aus Krieg Frieden (siehe Krieg und Frieden; Tolstoi), aus den Individuen die Gesellschaft.
Organismus und Organisation sind aber so verschieden wie Leben von einer Maschine, wie eine natürliche Blume von einer künstlichen. In der natürlichen Pflanze führt jede Zelle ihr eigenes Dasein für sich und in Wechselwirkung mit den anderen. Dieses Selbstsein und sich selbst erhalten ist es, was wir das Leben nennen. In der künstlichen Pflanze fügen sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen nur soweit zusammen, als der Wille ihres Schöpfers, der sie verbunden hat, wirksam ist. Nur soweit als dieser Wille wirksam es will, beziehen sich in der Organisation die Teile aufeinander. Jeder nimmt nur den Platz ein, der ihm zugewiesen ist, und verlässt ihn gewissermaßen nur auf Befehl. Insofern die Teile leben, d. h. für sich sind, können sie es im Rahmen der Organisation nur soweit tun, als ihr Schöpfer sie lebend in seine Schöpfung eingesetzt hat, nicht einen Schritt darüber hinaus. Das Pferd, das der Fahrer vor den Wagen gespannt hat, lebt als Pferd. In der Organisation Gespann steht es dem Fahrzeug gerade so fremd gegenüber wie der mechanische Motor dem von ihm gezogenen Wagen. Die Teile können ihr Leben auch gegen die Organisation führen, wenn z. B. das Pferd mit dem Wagen durchgeht, oder wenn das Gewebe, aus dem die künstliche Blume erzeugt ist, unter dem Einflusse chemischer Prozesse zerfällt. Nicht anders ist es in der menschlichen Organisation. Auch sie ist eine Willenstatsache wie die Gesellschaft. Doch der Wille, der sie schafft, bringt damit ebenso wenig einen lebenden Gesellschaftsorganismus hervor wie die Blumenmacherin eine lebende Rose. Die Organisation hält nur so lange, als der sie schaffende Wille sie zusammenzuhalten vermag. Die Teile, aus denen die Organisation zusammengesetzt ist, gehen in die Organisation nur insoweit ein, als dieser Wille ihrer Schöpfer wirksam wird, soweit es gelingt, ihr Leben in die Organisation einzufangen. In dem exerzierenden Bataillon gibt es nur einen Willen, den des Führers; alles andere ist, soweit es in der Organisation „Bataillon“ wirkt, tote Maschine. In diesem Abtöten des Willens, soweit er nicht den Zwecken des Truppenkörpers dient, liegt das Wesen des militärischen Drill. Der Soldat der Lineartaktik, in der die Truppe nichts als Organisation sein soll, wird „abgerichtet“. Leben gibt es im Truppenkörper nicht; das Leben, das der einzelne lebt, lebt er neben und außer ihm, vielleicht gegen ihn, aber niemals in ihm. Die moderne Kriegführung, die auf der Selbsttätigkeit des Schattenkriegers beruht, musste es unternehmen, das Leben des einzelnen Soldaten, sein Denken und seinen Willen in ihren Dienst zu stellen. Sie sucht den Soldaten nicht mehr bloß abzurichten, sondern auszubilden – na schön, wie auch immer.
Die Organisation jedenfalls, ist ein herrschaftlicher Verband, der Organismus aber, ein kooperativer. Der primitive Denker sieht überall das, was von außen organisiert wurde, niemals das Selbstgewordene, das Organische. Er sieht den Pfeil, den er geschnitzt hat, er weiß, wie der Pfeil geworden und wie er in Bewegung kam, und nun fragt er bei allem, was er sieht, wer es gemacht hat und wer es bewegt. Er fragt bei allem Leben nach seinem Schöpfer, bei jeder Veränderung in der Natur nach ihrem Urheber und findet eine animistische (Animisten betrachten jeden auch nur all so kleinen Teil der Welt als einen beseelten Ehrfurcht gebietenden Kosmos, der der Seele der monotheistischen, mosaischen Religionen vergleichbar ist. Für sie ist die spirituelle Welt die eigentliche Realität) Erklärung. So entstehen die Götter. Er sieht die organisierte Gemeinde, in der ein oder mehrere Herrscher den Beherrschten gegenüberstehen, und danach sucht er auch das Leben als Organisation zu verstehen, nicht als Organismus. Daher die alte Vorstellung, die im Kopfe den Zauberer des Körpers zu finden glaubt und ihn als Haupt mit demselben Ausdruck bezeichnet wie den Obristen in der Organisation.
Die Überwindung der Organisationsvorstellung, die Erkenntnis des Wesens des Organismus, ist die größte Tat, die die Wissenschaft geleistet hat. Sie ist für das Gebiet der Sozialwissenschaft - das kann man bei aller Anerkennung, die älteren Denkern gebührt, sagen - im wesentlichen vom 18. Jahrhundert vollbracht worden; den Hauptteil hatten daran die klassische Nationalökonomie und ihre unmittelbaren Vorläufer. Die Biologie ist ihr erst nachgefolgt. Sie lässt alle animistischen und vitalistischen (Die Bezeichnung Vitalismus ist ein Kampfbegriff aus dem 19. Jahrhundert - Als ein Vorläufer des Vitalismus kann Aristoteles gelten, der das Lebendige als durch ein Lebensprinzip ermöglicht betrachtete.) Vorstellungen fallen. Für die moderne Biologie ist auch der Kopf nicht mehr das Haupt, kein Regent des Körpers mehr. Es gibt im lebenden Körper keinen Führer und keine Geführten, keinen Gegensatz von Haupt und Gliedern, von Seele und Körper. Es gibt nur noch Glieder, Organe, Punkt!
Es ist ein grenzenloser Wahn, die Gesellschaft, dabei ist es völlig gleichgültig ob eine in Deutschland bestehende oder eine „zerrüttete“ Griechische, organisieren zu wollen, nicht anders als ob jemand eine lebende Pflanze zerstückeln wollte, um aus den toten Teilen eine neue zu machen. Eine Organisation der Menschheit wäre nur denkbar, wenn man zuerst den lebenden gesellschaftlichen Organismus erschlagen hat. Die kollektivistischen Bestrebungen (z. B.: Gewinne der Banken privatisieren und Schulden der Banken sozialisieren) sind schon aus diesem Grunde ganz aussichtslos. Es kann gelingen, eine alle Menschen umfassende Organisation zu schaffen. Aber das wäre immer nur eine Organisation, neben der das gesellschaftliche Leben weiterginge, die von den gesellschaftliehen Kräften verändert und gesprengt werden könnte und sicherlich gesprengt werden müsste, sobald sie den Versuch machen wollte, sich gegen sie aufzulehnen. Will man den Kollektivismus zur Tatsache machen, dann müsste man alles gesellschaftliche Leben zuerst töten und dann den kollektiven Staat aufbauen. Die Bolschewiken haben das vorgemacht, und dachten ganz folgerichtig, wenn sie zuerst einmal alle überkommen gesellschaftlichen Bindungen auflösen um den in ungezählten Jahrtausenden aufgerichteten Gesellschaftsbau niederzureißen, dann aber auf den Trümmern einen Neubau aufzurichten. Sie übersahen nur, dass sich bei den isolierten Individuen, zwischen denen keinerlei gesellschaftliche Beziehungen mehr bestehen, auch nichts mehr organisieren lässt.
Organisationen sind nur soweit möglich, als sie sich nicht gegen das Organische kehren und es nicht verletzen. Alle Versuche, den lebendigen Willen der Menschen in ein Werk einzuspannen, dem er nicht dienen will, müssen scheitern. Jede Organisation kann nur soweit gedeihen, als sie sich auf dem Willen der Organisierten aufbaut und ihren Zwecken dient.
Gesellschaft ist nicht bloße Wechselwirkung. Wechselwirkung findet auch zwischen Tieren statt, z. B. wenn der Wolf das Lamm genüsslich auffrisst, oder wenn Wolf und Wölfin sich paaren. Dennoch sprechen wir nicht von Tiergesellschaft oder von Wölfegesellschaft. Wolf und Lamm, Wolf und Wölfin sind zwar Glieder eines Organismus, nämlich desjenigen der Natur. Diesem Organismus fehlt aber das spezifische Charakteristikum des gesellschaftlichen Organismus: er ist nicht Willenstatsache. Darum ist auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern nicht schon an und für sich gesellschaftliche Beziehung. Indem Frank und sein Weib zusammenkommen, folgen sie dem Gesetz, das ihnen in der Natur die Stellungen zuweist. Soweit stehen sie unter der Herrschaft des Triebes. Gesellschaft ist erst dort vorhanden, wo ein Wollen zum Mitwollen, ein Handeln zum Mit handeln wird. In Gemeinschaft Zielen zuzustreben, die man allein überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in gleich wirksamer Weise erreichen könnte, kooperieren, das ist Gesellschaft.
Darum ist Gesellschaft nicht Zweck, sondern Mittel, Mittel jedes einzelnen Mitgliedes zur Erreichung seiner eigenen Ziele. Dass Gesellschaft überhaupt möglich ist, ist nur darauf zurückzuführen, dass der Wille des einen und der des anderen sich in gemeinsamem Streben finden, so dass aus der Willensgemeinschaft die Arbeitsgemeinschaft entspringt. Weil ich das, was ich will, nur erreichen kann, wenn mein Kollege das erreicht, was er will, wird mir sein Wollen und Handeln zum Mittel, mein eigenes Ziel zu erreichen. Weil notwendigerweise mein Wollen auch sein Wollen mit einschließt, kann es gar nicht meine Absicht sein, seinen Willen zu brechen. Das ist die Grundtatsache, auf der sich alles gesellschaftliche Leben aufbaut.
Das Prinzip der Arbeitsteilung enthüllt das Wesen des gesellschaftlichen Werdens. Wie gewaltig der Fortschritt war, den die Erkenntnis des Gesellschaftlichen mit der Erfassung der Bedeutung der Arbeitsteilung gemacht hatte, zeigt am besten ein Blick auf die Gesellschaftstheorie Kants. Als Kant schrieb, war die Lehre von der Arbeitsteilung, soweit sie auch schon durch die Nationalökonomie des 18. Jahrhunderts gefördert worden war, noch lange nicht ausgebaut; es fehlte ihr vor allem noch jene Vertiefung, die sie durch die  Außenhandelstheorie erhalten hat. Doch in der Lehre von der Harmonie der Interessen war ihre weittragende Anwendung auf die Gesellschaftstheorie schon vorweggenommen  worden. Kant ist von diesen Ideen nicht berührt worden. Darum vermag er das gesellschaftliche Sein nicht anders zu erklären als durch die Annahme eines Hanges der Menschen in Gesellschaft zu treten, dem aber wieder ein zweiter Hang, der auf die Trennung der Gesellschaft hinarbeitet, entgegenwirkt. Des Antagonismus dieser beiden Neigungen bediene sich die Natur, um die Menschheit dem Ziele zuzuführen, das sie ihr gesetzt hat. Man kann sich kaum etwas Ärmlicheres denken als diesen Versuch, die Gesellschaft aus dem Widerspiel zweier Neigungen, der Neigung „sich zu vergesellschaften“ und der Neigung „sich zu vereinzelnden“ zu erklären. Sie geht nicht tiefer als die Erklärung der Wirkung des Opiums aus der virtus dormitiva, cuius est natura sensus assupire (weil ihm eine schlafbringende Kraft innewohnt, dessen Natur es ist die Sinne einzuschläfern).
Hat man einmal in der Arbeitsteilung das Wesen der Gesellschaft gefunden, dann bleibt kein Raum mehr für die Antithese Individuum oder Gesellschaft, Individual- oder Sozialprinzip.
Soweit die Vergesellschaftung sich jenseits des Erwachens menschlichen Denkens und Wollens unter der Herrschaft von Instinkt und Trieb abspielt, kann sie nicht Gegenstand der soziologischen Betrachtung sein. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Soziologie die Erklärung des Werdens der Gesellschaft auf eine andere Wissenschaft abzuwälzen und die gesellschaftliche Verflechtung der Menschen als eine gegebene Tatsache hinzunehmen hat. Denn wenn wir - was aus der Gleichsetzung von Gesellschaft und Arbeitsteilung unmittelbar folgt - zur Auffassung gelangen, dass die Gesellschaftsbildung mit dem Auftreten des denkenden und wollenden Menschen nicht abgeschlossen ist, sich vielmehr in der Geschichte fortsetzt, müssen wir nach einem Prinzip suchen, das uns diese Entwicklung verständlich macht. Dieses Prinzip gibt uns die ökonomische Theorie der Arbeitsteilung. Man hat es dahin formuliert, dass man gesagt hat: der glückliche Zufall, der die Entstehung der Kultur ermöglicht hat, ist die Tatsache, das geteilte Arbeit produktiver ist als nicht arbeitsteilig verrichtete. Die Entwicklung der Arbeitsteilung vollzieht sich unter dem Drucke der Erkenntnis, dass jeder ihrer Fortschritte die Produktivität der Arbeit steigert. Sie ist in diesem Sinne in Wahrheit wirtschaftlicher Fortschritt, da sie die Wirtschaft ihrem Ziele, möglichst reichlicher Bedürfnisbefriedigung, näher bringt. Dieser Fortschritt ist aber zugleich auch ein gesellschaftlicher Fortschritt in dem Sinne, als mit ihm die Vergesellschaftung weiterschreitet.
Nur in diesem Sinn und frei von jeder teleologischen oder ethischen Wertung lässt sich der Ausdruck Fortschritt soziologisch in der Geschichtsbetrachtung anwenden. Wir glauben in den Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse eine bestimmte Richtung beobachten zu können, und wir fragen nun, indem wir jede einzelne Veränderung gesondert vornehmen, ob und wie weit sich diese Annahme mit ihr verträgt. Es mag sein, dass wir verschiedene Annahmen dieser Art machen können, von denen jede in gleicher Weise der Erfahrung entspricht. Dann würde das Problem der Verknüpfung dieser Annahmen auftauchen, ob sie voneinander unabhängig sind oder ob sie innerlich zusammenhängen; in diesem Falle wäre dann wieder zu prüfen, von welcher Art dieser Zusammenhang ist. Immer aber kann es sich dabei nur um eine wertfreie, an einer Hypothese gemessene Betrachtung des Ablaufes der Veränderungen handeln.
Sieht man von jenen Entwicklungstheorien, die in naiver Weise auf Werturteilen aufgebaut sind, ganz ab, dann sind es vor allem zwei Mängel, die die Mehrzahl der zur Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung aufgestellten Theorien als unbefriedigend erscheinen lassen. Der erste Mangel ist der, dass ihr Entwicklungsprinzip nicht an die Gesellschaft als solche anknüpft. Bei dem Gesetz der drei Stadien des menschlichen Geistes oder auch bei den fünf Stadien des sozialpsychischen Verlaufs fragt man vergebens nach dem inneren und notwendigen Zusammenhang der geistigen und seelischen Entwicklung mit der gesellschaftlichen. Es wird uns gezeigt, wie sich die Gesellschaft verhält, wenn sie in ein neues Stadium eingetreten ist. Was wir aber suchen, ist mehr, ist ein Gesetz, das zeigt, wie Gesellschaft entsteht und sich wandelt. Die Veränderungen, die wir als Veränderungen der Gesellschaft sehen, werden von den Stadien Theorien als von außen auf die Gesellschaft einwirkenden Tatsachen behandelt; wir aber wollen sie als Auswirkungen einer beständigen Regel begreifen. Der zweite Mangel ist der, dass alle diese Theorien Stufentheorien sind. Für die Stufentheorie gibt es in Wahrheit keine Entwicklung, d. h. keine kontinuierliche Veränderung, in der wir eine bestimmte Richtung zu erkennen glauben. Ihre Aussage enthält nur die Feststellung einer bestimmten Aufeinanderfolge von Ereignissen, nicht den Nachweis der kausalen Verknüpfung dieser Ereignisse untereinander. Sie gelangt bestenfalls dazu, Parallelismen der Stufenfolge bei den verschiedenen Völkern (In unserem Beispiel: Griechenland und Deutschland) festzustellen. Wenn wir das menschliche Leben in Kindheit, Jugendzeit, Mannesalter und Greisenalter gliedern, ist dies etwas anderes als wenn wir das Gesetz aufzeigen, unter dessen Walten Wachstum und Verfall des Organismus stehen. Jeder Stufentheorie haftet notwendigerweise etwas Willkürliches an. Die Abgrenzung der Stufen ist immer schwankend.
Die neuere deutsche Nationalökonomie hat zweifellos das Richtige getroffen, wenn sie die Arbeitsteilung zur Grundlage ihrer Entwicklungstheorie macht. Sie hat sich aber dabei nicht von dem alt überkommenen Schema der stufenweisen Gliederung freizumachen gewusst. Ihre Theorie ist noch immer Stufentheorie. So unterscheidet man immer noch die Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft (reine Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft), die Stufe der Stadtwirtschaft (Kundenproduktion oder Stufe des direkten Austausches) und die Stufe der Volkswirtschaft (Warenproduktion, Stufe des Güterumlaufes). Oder man scheidet die Perioden der Dorfwirtschaft, Stadtwirtschaft, Territorialwirtschaft und Staatswirtschaft. Und man  unterscheidet geschlossene Hauswirtschaft und Verkehrswirtschaft, innerhalb der Verkehrswirtschaft wieder die Periode des lokal gebundenen Verkehrs, die des staatlich gebunden Verkehrs und die des freien Verkehrs (entwickelte Volkswirtschaft), Kapitalismus. Gegen diese Versuche, die Entwicklung in ein Schema einzuzwängen, sind schwere Bedenken geltend gemacht worden. Es mag dahingestellt bleiben, welchen Wert solche Einteilungen für die Charakteristik bestimmter Geschichtsepochen haben und inwieweit sie als Hilfsmittel der Darstellung zulässig sind. Jedenfalls müssen sie mit großer Vorsicht verwendet werden. Wie leicht man bei solchem Klassifizieren Gefahr läuft, über scholastischer (wissenschaftliche Denkweise und Methode der Beweisführung) Wortklauberei den Blick für die geschichtliche Wirklichkeit zu verlieren, zeigt der unfruchtbare Streit um den Charakter der Wirtschaft der alten Völker. Für die soziologische Betrachtung sind die Stufentheorien unbrauchbar. Sie führen uns gerade in einem der wichtigsten Probleme der Geschichte in die Irre, nämlich bei Entscheidung der Frage, inwiefern eine Kontinuität bzw. Diskontinuität der Entwicklung überhaupt festzustellen ist.
Man pflegt diese Frage entweder dahin zu beantworten, dass man ohne weiteres annimmt, die gesellschaftliche Entwicklung, als welche wir die Entwicklung der Arbeitsteilung ins Auge zu fassen haben, habe sich in einer ununterbrochenen Linie bewegt, oder indem man sich auf den Standpunkt stellt, dass jedes Volk immer wieder von neuem die Stufenfolge des Fortschrittes durchmessen habe. Beide Annahmen sind unzutreffend. Die Entwicklung kann nicht als eine ununterbrochene bezeichnet werden, da wir deutlich in der Geschichte Verfallsperioden - Perioden der Rückbildung der Arbeitsteilung - zu beobachten vermögen. Andererseits geht der Fortschritt, den einzelne Völker durch die Erreichung einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erlangt haben, nicht wieder ganz verloren. Er greift auf andere Völker über und beschleunigt deren Entwicklung. So hat der Untergang der antiken Welt zweifellos die verkehrswirtschaftliche Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeschraubt. Doch die neuere geschichtliche Forschung hat gezeigt, dass die Fäden, die die wirtschaftliche Kultur des Altertums mit der des Mittelalters verbinden, viel dichter waren, als man früher anzunehmen geneigt war. Der wirtschaftliche Verkehr hat unter den Stürmen der Völkerwanderung wohl schwer gelitten, doch er hat sie überlebt. Seine Träger, die Städte, sind in der Völkerwanderung nicht ganz zugrunde gegangen. An die Reste städtischen Lebens knüpfte die Neuentwicklung des Austauschverkehrs an. In der Stadtkultur hat sich ein Stück der gesellschaftlichen Errungenschaften der Antike in das moderne Leben herübergerettet.
Die Fortschritte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind durchaus abhängig von dem Stand der Erkenntnis des Nutzens, d. h. der höheren Produktivität, der arbeitsteilig verrichteten Arbeit. Diese Erkenntnis wird den Menschen zum ersten Male in den Lehren der klassischen Nationalökonomie des 18. Jahrhunderts voll bewusst. Doch sie ist im Kern schon enthalten in allen friedensfreundlichen Gedankengängen, in jedem Lob des Friedens, in jeder Verurteilung des Krieges. Die Geschichte ist der Kampf der beiden Prinzipien, des friedlichen, die Entwicklung des Verkehrs fördernden, und des militärisch-imperialistischen, das menschliches Zusammenleben nicht in genossenschaftlicher Arbeitsteilung sondern in gewaltsamem Niederhalten der einen durch die anderen sucht. Immer wieder erlangt das imperialistische Prinzip die Oberhand. Das Liberale vermag sich ihm gegenüber nicht zu behaupten, solange die tief in den Massen verankerte Neigung zur friedlichen Arbeit sich nicht zur vollen Erkenntnis ihrer eigenen Bedeutung als Prinzip der Gesellschaftsentwicklung durchgerungen hat. Soweit das imperialistische Prinzip gilt, ist Frieden immer nur in zeitlich und örtlich beschränktem Umfange zu erreichen: er dauert nie länger, als die konkreten Tatsachen, die ihn geschaffen. Die geistige Atmosphäre, die der Imperialismus um sich verbreitet, ist wenig geeignet, die Vergesellschaftung zu befördern; ihr Hinübergreifen über die politisch-militärischen Scheidewände, die die Staaten trennen, macht er nahezu unmöglich. Die Arbeitsteilung braucht Freiheit und Frieden. Erst als das achtzehnte Jahrhundert eine Philosophie des Friedens und der gesellschaftlichen Zusammenarbeit geschaffen hatte, war die Grundlage für jene staunenswerte Entwicklung der wirtschaftlichen Kultur des Zeitalters gelegt, das die jüngsten imperialistischen und sozialistischen Doktrinen als das Zeitalter des krassen Materialismus, des Egoismus und des Kapitalismus zu brandmarken pflegen.
Man kann diese Zusammenhänge nicht verkehrter darstellen, als es die materialistische Geschichtsauffassung macht, wenn sie die Entwicklung der gesellschaftlichen Ideologie als abhängig von der erreichten Stufe der technischen Entwicklung darstellt. Nichts ist verfehlter als der bekannte Ausspruch von Marx: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“. Das ist schon formal unzulänglich. Wenn man die geschichtliche Entwicklung durch die Entwicklung der Technik zu erklären sucht, verschiebt man nur das Problem, ohne es irgendwie zu lösen. Denn die treibenden Kräfte der technischen Entwicklung bedürfen dann erst recht einer besonderen Erklärung.
Technische Fortschritte sind nur möglich, wo durch die Arbeitsteilung die Voraussetzung ihrer Anwendung geschaffen wurde. Die mechanische Schuhfabrikation setzt eine Gesellschaft voraus, in der die Erzeugung von Schuhen für Hunderttausende oder Millionen Menschen in wenigen Betrieben vereinigt werden kann. Für die Dampfmühle gab es in einer Gesellschaft von autarkisch lebenden Bauern keine Verwendungsmöglichkeit. Erst die Arbeitsteilung kann den Gedanken, motorische Kräfte in den Dienst der Müllerei zu stellen, entstehen lassen.
Die Zurückführung alles Gesellschaftlichen auf die Entwicklung der Arbeitsteilung hat mit dem groben und naiven Materialismus der technologischen und andersartigen materialistischen Geschichtskonstruktionen nichts gemein. Sie bedeutet auch keineswegs, wie dies besonders die Epigonen der idealistischen Philosophie zu behaupten pflegen, eine unzulässige Verengung des Begriffes der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es ist nicht richtig, dass sie den Gesellschaftsbegriff auf das spezifisch Materielle beschränkt. Was vom gesellschaftlichen Leben jenseits des Ökonomischen liegt, das sind die Endzwecke. Die Wege aber, die zu ihnen führen, stehen unter dem Gesetz alles rationalen Handelns; soweit sie in Betracht kommen, wird gewirtschaftet.
Die vornehmste Wirkung der Arbeitsteilung ist die, dass sie aus dem unabhängigen Individuum den abhängigen Gesellschaftsmenschen macht. Der soziale Mensch wird durch die Arbeitsteilung gerade so verändert wie die Zelle, die sich in einen Organismus einfügt. Er passt sich den neuen Lebensbedingungen an, er lässt manche Kräfte und Organe verkümmern und entfaltet andere umso besser. Er wird einseitig. Das haben alle Romantiker, die unentwegten laudatores temporis acti (die Bewunderer der vergangenen Zeit), stets bedauert. Ihnen ist der Mensch der Vergangenheit, der seine Kräfte „harmonisch“ entfaltet, das Ideal, dem unsere entartete Zeit leider nicht mehr entspricht. Sie empfehlen darum Rückbildung der Arbeitsteilung. Daher ihr Lob der landwirtschaftlichen Tätigkeit, wobei sie immer nur an den annähernd autarken Bauer denken.
Wie überall, wo die völlige Unfähigkeit, das Wesen der Gesellschaft zu begreifen, und antisoziale Vorschläge in Frage kommen, gehen auch hier die modernen Sozialisten am weitesten. In der höheren Phase der Gesellschaft wird, so verspricht Marx, „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden“ sein. Es wird dem menschlichen „Abwechslungsbedürfnis“ Rechnung getragen werden. „Abwechslung von geistiger und körperlicher Arbeit“ wird „die harmonische Ausbildung des Menschen“ gewährleisten.
Was zur Beurteilung dieser Illusionen zu sagen wäre, ist an dieser Stelle nicht notwendig. Wäre es möglich, mit jenem Maß an Arbeit, das selbst noch keine Unlust erweckt und nur die aus dem Nichtstun erwachsenden Unlustgefühle überwindet, zur Erreichung aller menschlichen Zwecke das Auskommen zu finden, dann wäre die Arbeit überhaupt nicht Gegenstand der Bewirtschaftung. Der Mensch würde seine Ziele „spielend“ erreichen. Diese Voraussetzung trifft aber nicht zu. Auch der autarke Arbeiter muss in den meisten Arbeiten, die er zu vollbringen hat, über jene Grenzen hinaus, innerhalb welcher die Arbeit noch Lustgefühle auslöst, arbeiten. Man mag annehmen, dass die Arbeit bei ihm weniger Unlustgefühle erweckt als bei jenem Arbeiter, der auf eine bestimmte Tätigkeit beschränkt ist, da er am Anfang einer jeden neuen Arbeit, die er in Angriff nimmt, von neuem Lustgefühle in der Betätigung selbst findet. Wenn die Menschen trotzdem zur Arbeitsteilung übergegangen sind und sie immer mehr entwickelt haben, so lag der Grund hierfür in der Erkenntnis, dass die höhere Ergiebigkeit der geteilten Arbeit jenen Ausfall an Lustgefühl übersteigt. Man kann die Entwicklung der Arbeitsteilung nicht zurückschrauben, ohne die Produktivität der Arbeit herabzusetzen. Das gilt für alle Arten der Arbeit. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte ohne Verminderung der Ergiebigkeit der Arbeit zur Rückbildung der Arbeitsteilung schreiten.
Die Abhilfe für die Schäden, die die einseitige Arbeit dem Individuum an Leib und Seele zufügt, kann man, wenn man nicht die gesellschaftliche Entwicklung zurückschrauben will, nicht dadurch anstreben, dass man die Arbeitsteilung aufhebt, sondern nur dadurch, dass der einzelne sich selbst zu einem vollen Menschen zu entwickeln sucht. Nicht durch Reformen der Arbeit, durch Reformen des Konsums muss sie angestrebt werden. Spiel und Sport, Kunst und Lektüre weisen den Weg, auf dem man dieses Ziel zu erreichen vermag.
Den harmonisch ausgebildeten Menschen dürfen wir nicht am Ausgangspunkt der wirtschaftlichen Entwicklung suchen. Der annähernd autarke Bauer, den wir in der Gestalt des Bauern der bayrischen Au und entlegener Seitentäler vor Augen haben, zeigt durchaus nicht jene edle harmonische Ausbildung des Körpers, des Geistes und des Gemütes, die die Romantiker ihm zuzuschreiben pflegen. Die geistige Kultur ist ein Erzeugnis der Mußestunden und des ruhigen Behagens, die nur die Arbeitsteilung vermitteln kann. Nichts ist irriger, als wenn man annimmt, der Einzelmensch sei in die Geschichte als selbständige Individualität getreten und habe erst im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, die zur Bildung der großen Gemeinschaft führt, mit seiner äußeren auch seine innere Unabhängigkeit verloren. Alle geschichtliche Erfahrung und die Beobachtung des Lebens der Naturvölker widersprechen dem ganz und gar. Dem Urmenschen fehlt alle Individualität in unserem Sinne. Zwei Südseeinsulaner gleichen sich viel mehr als zwei Londoner des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Persönlichkeit ist nicht von Uranfang her den Menschen zuteil geworden. Sie ist durch die Entwicklung der Gesellschaft erarbeitet worden.
Die gesellschaftliche Entwicklung ist als Entwicklung der Arbeitsteilung Willenserscheinung; sie ist durchaus vom Willen der Menschen abhängig. Ohne das Problem zu berühren, ob man berechtigt ist, jeden Fortschritt der Arbeitsteilung, somit der Vergesellschaftung, als Aufstieg zu höherer Stufe zu werten, müssen wir uns nun fragen, ob der Weg der Vergesellschaftung nicht in dem Sinn ein notwendiger ist, dass er von den Menschen auch begangen werden muss. Ist immer weiter fortschreitende Vergesellschaftung der Inhalt der Geschichte? Ist Stillstand oder Rückbildung der Gesellschaft möglich?
Wenn wir auch von vornherein die Annahme eines in der „Naturabsicht“, in einem „verborgenen Plan“ der Natur, gelegenen Zieles der geschichtlichen Entwicklung, wie es Kant vorschwebte und wie es auch Hegel und Marx vor Augen hatten, ablehnen müssen, so können wir doch nicht umhin zu prüfen, ob nicht ein Prinzip aufgezeigt werden könnte, das uns die Notwendigkeit einer fortschreitenden Vergesellschaftung zu erweisen vermöchte. Da bietet sich zunächst das Prinzip der natürlichen Auslese dar. Höher entwickelte Gesellschaften erreichen einen höheren Grad von materiellem Reichtum als weniger entwickelte, sie haben daher mehr Aussicht, ihre Glieder vor dem Verkommen im Elend zu bewahren. Sie sind aber auch besser gerüstet, um feindliche Angriffe abzuweisen. Die Beobachtung, dass reichere und kultiviertere Völker häufig militärisch von weniger wohlhabenden und weniger kultivierten niedergeworfen wurden, darf nicht irre machen. Völker, die einen hohen Grad der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht hatten, haben sich stets auch gegen eine Übermacht weniger entwickelter Völker zumindest zu wehren gewusst. Nur im Abstieg befindliche Völker, innerlich zersetzte Kulturen, wurden die Beute aufstrebender Völker. Wo eine höher organisierte Gesellschaft dem kriegerischen Ansturm einer weniger entwickelten erlegen ist, da sind die Sieger schließlich kulturell in den Besiegten aufgegangen, haben ihre Wirtschafts- und Sozialverfassung, ja auch ihre Sprache und ihren Glauben angenommen. Als Kriegsschauplätze der Gegenwart, kann man durchaus die sog. „Kapitalmärkte“ gelten lassen und somit ist der Vergleich nicht nur angestrebt sondern auch gewollt!
Die Überlegenheit der höher entwickelten Gesellschaften über die weniger entwickelten (Wer für welche steht, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen – aber trotzdem steht ja noch über Allem: Europa) beruht nicht nur auf ihrer größeren materiellen Wohlfahrt, sondern auch darauf, dass sie diese schon quantitativ durch die Zahl ihrer Mitglieder und qualitativ durch die größere Festigkeit ihres inneren Aufbaues überragen. Denn die gesellschaftliche Höherentwicklung besteht ja gerade darin, dass der gesellschaftliche Kreis erweitert wird, dass die Arbeitsteilung mehr Menschen und jeden einzelnen stärker erfasst. Die höher entwickelte Gesellschaft unterscheidet sich von der weniger entwickelten durch den festeren Zusammenschluss ihrer Mitglieder, der die gewaltsame Austragung von Konflikten innerhalb der Gesellschaft ausschließt und nach außen hin gegen einen Feind, der die Existenz der Gesellschaft bedroht, eine geschlossene Abwehrfront herstellt. In den schwächer organisierten Gesellschaften, in denen der gesellschaftliche Zusammenschluss schwach ist und zwischen den einzelnen Teilen mehr Verbundenheit für ein Kampf- und Krawallkultur als wahre, d. h. auf Arbeitsgemeinschaft beruhende gesellschaftliche Solidarität besteht, bricht viel leichter und schneller Uneinigkeit aus als in höher entwickelten. Denn die kampfbetonte Gemeinschaft knüpft um die Mitglieder kein festes, dauerhaftes Band. Sie ist ihrer Natur nach nur eine vorübergehende Bindung, sie wird nur durch die Aussicht auf augenblicklichen Vorteil zusammengehalten und fällt auseinander, wenn der Gegner besiegt ist und der Streit um die Verteilung der Beute beginnt. Im Kampfe mit niedriger organisierten Gesellschaften ist den höher entwickelten immer die Uneinigkeit innerhalb jener die mächtigste Hilfe gewesen. Nur vorübergehend ist es niedriger organisierten Völkern gelungen, sich zu größeren Unternehmungen aufzuraffen. Innere Uneinigkeit hat ihre Politiker immer wieder rasch auseinandergehen lassen. Die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Gesellschaftstypus über den befehlsbetonten, beruht nicht in letzter Linie darauf, dass die befehlsbetonten Verbände immer wieder durch die innere Uneinigkeit auseinanderfallen.
Die gesellschaftliche Fortbildung wird aber noch durch einen anderen Umstand gefördert. Wie schon gezeigt wurde, ist die Ausdehnung des gesellschaftlichen Kreises ein Interesse aller Glieder der Gesellschaft. Es ist für einen hochentwickelten Gesellschaftsorganismus keine gleichgültige Sache, ob neben ihm außerhalb seines Kreises Völker in Selbstgenügsamkeit auf einer niedrigeren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung verharren. Er hat auch dann ein Interesse, sie in den Kreis seiner Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft einzubeziehen, wenn er von ihrem Verharren auf niedrigerer Stufe weder politisch-militärisch bedroht ist noch auch von der Einbeziehung ihres Wohngebietes, das etwa nur ungünstigere natürliche Produktionsbedingungen bietet, irgendwelche unmittelbare Vorteile zu erwarten hat. Ich habe schon gezeigt, dass die Erweiterung des persönlichen Kreises der an der arbeitsteiligen Gesellschaft Teilnehmenden immer einen Vorteil bedeutet, so dass auch das tüchtigere Volk ein Interesse an der Kooperation mit dem weniger tüchtigen hat. Das ist es, was die auf höherer gesellschaftlicher Stufe stehenden Völker beständig dazu treibt, den Wirtschaftskreis durch Einbeziehung bisher unzulänglicher Gebiete zu erweitern. Die Erschließung der rückständigeren Gebiete des nahen (DDR) und ferneren Ostens (Griechenland), sowie Afrikas und Amerikas hat eine Weltwirtschaftsgemeinschaft angebahnt, die uns kurz vor dem Ausbruch der Krise in 2008/2009 der Verwirklichung des Traumes einer ökumenischen Gesellschaft in die Nähe gerückt hatte. Hatte die Krise diese Entwicklung unterbrochen, oder hat sie sie ganz vernichtet? Ist es denkbar, dass diese Entwicklung überhaupt zum Stillstand kommt, dass sich die Gesellschaft gar rückbildet? 
Man kann dieses Problem nicht behandeln, wenn man nicht zugleich auf ein anderes eingeht, nämlich auf das des Völkersterbens. Es ist alte Überlieferung, vom Altern und Sterben der Völker, von jungen Völkern und alten Völkern zu sprechen. Wie jedes Gleichnis, so hinkt auch dieses, und wir tun besser, bei der Untersuchung jener Erscheinungen, die es kennzeichnen soll, auf metaphorische (übertragene Bedeutung) Redensarten zu verzichten. Was ist der Kern des Problems, das sich hier bietet?
Es ist zunächst klar, dass wir es nicht mit einem anderen, nicht minder schwierigen Problem, dem der nationalen Wandlungen, verquicken dürfen. Die Deutschen haben vor tausend oder vor fünfzehnhundert Jahren eine andere Sprache gesprochen als heute; doch wir würden uns hüten, darum zu sagen, dass die hochdeutsche Kultur „gestorben“ sei. Wir erblicken vielmehr in der deutschen Kultur eine ununterbrochene Kette der Entwicklung, die, von nicht mehr erhaltenen Denkmälern der Literatur abgesehen, vom ‚Heljand’ (Heiland – Norddeutsch)  und von Otfrieds Evangelien bis in unsere Tage fortschreitet. Von den Pommern und Preußen, die sich im Laufe der Jahrhunderte den deutschen Kolonisten assimiliert haben, sagen wir wohl, dass sie ausgestorben seien, doch wir werden nicht behaupten wollen, dass sie je als Völker „alt“ geworden seien. Wollte man den Vergleich hier durchführen, so müsste man schon von jung verstorbenen Völkern sprechen. Die nationale Umgestaltung fällt aus der Betrachtung unserer Probleme heraus. Ebenso wenig kann damit der staatliche Verfall gemeint sein. Der Verfall des Staatswesens erscheint bald als eine Folgeerscheinung des Alterns der Völker, bald als eine hiervon unabhängige Tatsache. Der Untergang des alten polnischen Staatswesens hat mit einem Verfall der polnischen Kultur oder des polnischen Volkstums nichts zu tun. Die gesellschaftliche Entwicklung Polens ist durch ihn nicht aufgehalten worden. Der Zusammenbruch der DDR war nicht damit verbunden, dass es keine gemeinsame Kultur mehr in Deutschland nach 1990 gab.
Die Tatsachen, die wohl bei keinem der Fälle fehlen, den man für das Altern einer Kultur anführt, sind die des Rückganges der Bevölkerung, der Abnahme des Wohlstandes und des Verfalles der Städte. Wir verstehen alle diese Erscheinungen sofort in ihrer geschichtlichen Bedingtheit, wenn wir in dem Altern der Völker Rückbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Rückentwicklung der Gesellschaft, erblicken wollen. Gesellschaftlicher Rückgang war z. B. der Untergang der antiken Welt. Die Auflösung des römischen Reiches ist nur die Folge der Rückbildung der antiken Gesellschaft, die von einem immerhin beträchtlichen Grade gesellschaftlicher Arbeitsteilung in annähernd natural wirtschaftlichen Verhältnissen zurücksinkt. Darum entvölkern sich die Städte, darum nimmt aber auch die Bevölkerung auf dem Lande selbst ab, darum wachsen Not und Elend, weil eben eine auf einem geringeren Grade der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruhende Wirtschaftsordnung weniger produktiv ist. Darum gehen die technischen Fertigkeiten allmählich verloren, bildet sich die künstlerische Begabung zurück, erlischt langsam die Beschäftigung mit den Wissenschaften. Das ist das, was man am treffendsten mit dem Worte Zersetzung gekennzeichnet hat. Die antike Kultur stirbt, weil die antike Gesellschaft sich rückbildet, sich auflöst.
Völkersterben ist Rückentwicklung der Gesellschaft, ist Rückbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Was auch immer ihre Ursache im einzelnen Falle gewesen sein mag, stets wird sie dadurch wirksam, dass der Wille zum gesellschaftlichen Zusammenleben schwindet. Das mag uns früher als ein unverständliches Rätsel erschienen sein, jetzt, da wir es schaudernd miterleben, da wir in Griechenland den gewaltigen Prozess sich vor unseren Augen abspielen sehen, wird es uns in seinem Wesen eher verständlich, wenn wir auch die tiefsten und letzten Gründe solcher Veränderungen nicht zu erkennen vermögen.
Der soziale Geist, der Geist der gesellschaftlichen Kooperation ist es, der Gesellschaften bildet, weiter entwickelt und zusammenhält. Sobald er schwindet, fällt auch die Gesellschaft wieder auseinander. Völkertod ist gesellschaftliche Rückbildung, ist Entwicklung von der Arbeitsteilung zur Selbstgenügsamkeit. Der Gesellschaftsorganismus zerfällt wieder in die Zellen, aus denen er entstanden ist. Die Menschen bleiben, die Gesellschaft stirbt.
Nichts spricht dafür, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich immer gradlinig aufsteigend vollziehen muss. Gesellschaftlicher Stillstand und gesellschaftliche Rückbildung sind geschichtliche Tatsachen, an denen wir nicht vorübergehen dürfen. Die Weltgeschichte ist ein Friedhof toter Kulturen, und groß sehen wir vor uns die Beispiele stillstehender Kultur in Indien und Ostasien.
Die den Literaten und Artisten eigene Überschätzung ihres Getändels, die scharf von der Bescheidenheit absticht, mit der der echte Künstler sein Werk beurteilt, meint, es käme nicht so sehr darauf an, dass die wirtschaftliche Entwicklung fortgehe, wenn nur die innere Kultur vertieft werde. Doch alle innere Kultur bedarf äußerer Mittel zu ihrer Verwirklichung, und diese äußeren Mittel sind nur durch wirtschaftliche Arbeit zu erlangen. Rückgang der Produktivität der Arbeit durch Rückbildung der gesellschaftlichen Kooperation zieht auch den Verfall der inneren Kultur nach sich.
Alle älteren Kulturen sind entstanden und gewachsen, ohne dass sie zum vollen Bewusstsein der inneren Gesetze der Kulturentwicklung und zur Erkenntnis des Wesens und der Bedeutung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation erwacht wären Sie haben auf ihren Wegen oftmals mit kulturfeindlichen Tendenzen und Ideenrichtungen zu kämpfen gehabt, sie haben über sie wiederholt gesiegt, doch schließlich hat sie früher oder später alle das Schicksal ereilt. Sie sind dem Geiste der Zersetzung erlegen. Zum ersten Mal hat die Menschheit in der Sozialphilosophie das Bewusstsein der Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung erlangt, zum ersten Mal waren die Menschen sich klar geworden, worauf der Kulturfortschritt beruht. Voll froher Hoffnungen mochte man damals in die Zukunft blicken. Ungeahnte Perspektiven schienen sich zu eröffnen. Doch es kam anders. Der Sozialtheorie traten in der militaristisch-nationalistischen und vor allem in der sozialistisch-kommunistischen Lehre Ideen gegenüber, die gesellschaftsauflösend wirken. Die nationale Theorie nennt sich organisch, die sozialistische nennt sich sozial; beide wirken in Wahrheit desorganisierend und antisozial.
Von allen Beschuldigungen, die man gegen das System des Freihandels und des Sondereigentums erhoben hat, ist keine törichter als die, dass es antisozial und individualistisch sei und dass es den sozialen Körper atomisiere. Der Verkehr wirkt nicht auflösend, wie die romantischen Schwärmer für Autarkie kleiner Teile der Erdoberfläche behaupten, sondern verbindend. Erst die Arbeitsteilung lässt gesellschaftliche Bindung entstehen, sie ist das Soziale schlechthin. Wer für nationale und staatliche Wirtschaftsgebiete eintritt, sucht die Zivilgesellschaft zu zersetzen. Wer durch den Klassenkampf die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Innern eines Volkes zu zerstören sucht, ist asozial.
Ein Untergang der Zivilgesellschaften, würde eine Weltkatastrophe darstellen, die sich mit nichts, was die uns bekannte Geschichte enthält, auch nur im Entferntesten vergleichen lässt. Kein Volk bliebe von ihr verschont.
Die Scheidung der Individuen in Eigentümer und Nichteigentümer ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
Die Erkenntnis der sozialen Funktion des Eigentums ist die zweite große soziologische Leistung der klassischen Nationalökonomie und der „individualistischen“ Gesellschaftstheorie des 18. Jahrhunderts. Für die ältere Auffassung blieb das Eigentum immer mehr oder weniger ein Vorrecht der Besitzer, ein Raub am allgemeinen Gut, eine Einrichtung, die man ethisch als ein Übel, wenn auch mitunter als ein unvermeidliches Übel, anzusehen neigte. Erst im entwickelten Kapitalismus erkannte man die gesellschaftliche Funktion des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Es bringt die Güter in die Verfügungsgewalt derjenigen, die sie am besten zu verwenden wissen, es leitet sie in die Hand des besten Unternehmers. Daher ist nichts dem Wesen des Eigentums abträglicher als Besitzprivilegien und Produzentenschutz. Gebundenheit des Eigentums in jeder Gestalt, Bannrechte und andere Vorrechte der Erzeuger sind Einrichtungen, die geeignet sind, die gesellschaftliche Funktion des Eigentums zu hemmen. Sie werden mit derselben Entschiedenheit bekämpft, mit der gegen jede Art von Unfreiheit des Arbeiters angegangen werden muss.
Der Eigentümer entzieht niemand etwas. Niemand kann sagen, dass er entbehrt, weil ein anderer besitzt. Man schmeichelt den Neidinstinkten der Masse, wenn man ausrechnet, wie viel mehr der Arme zu verzehren hätte, wenn es keine Unterschiede des Besitzes gäbe. Nur pflegt man dabei zu übersehen, dass die Größe der gesellschaftlichen Produktion und die des gesellschaftlichen Einkommens nicht starr und unveränderlich sind, vielmehr wesentlich von der Besitzverteilung abhängen. Wenn das Eigentum anders verteilt wäre, dann würden minder tüchtige Unternehmer, deren Wirken weniger ergiebig ist, einen Teil der Produktion kommandieren; das müsste die Menge der Produkte vermindern. Die Gedankengänge des Verteilungs- und Subventionskommunismus sind Atavismus (Rückfall in überholte Verhaltensweisen) aus Zeiten, in denen die gesellschaftliche Verknüpfung noch nicht bestand oder nicht jenen Grad erreicht hatte, den sie heute hat, und in der dementsprechend die Ergiebigkeit der Produktion auch weit niedriger war. Der landlose Mann einer auf tauschloser Eigenwirtschaft beruhenden Wirtschaftsverfassung denkt folgerichtig, wenn er in der Aufteilung der Äcker das Ziel seiner Wünsche erblickt. Der moderne Prol verkennt das Wesen der gesellschaftlichen Produktion, wenn er ähnlichen Gedankengängen nachhängt.
Auch das sozialistische Ideal der Überführung der Produktionsmittel in die ausschließliche Verfügung der organisierten Gesellschaft, des Staates, wird mit dem Hinweis auf die Minderergiebigkeit der sozialistischen Produktionsweise bekämpft. Der Sozialismus der Schule Hegels versucht demgegenüber den Nachweis zu erbringen, dass die Entwicklung der Geschichte mit Notwendigkeit zur Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln führe.
Nach Lassalle besteht „im Allgemeinen der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte eben darin, immer mehr die Eigentumssphäre des Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des Privateigentums zu setzen“. Die Tendenz zur Vermehrung der Freiheit des Eigentums, die man aus dem Gange der geschichtlichen Entwicklung herauszulesen suche, sei nur eine scheinbare. Wie sehr auch der „Gedanke der zunehmenden Aufhebung des Privateigentumsumfanges als eines wirklichen Gesetzes der kulturhistorischen Bewegung des Rechts für paradox gehalten werden“ könne, so bewähre er sich doch bei eingehender detaillierter Betrachtung. Diese hat nun Lassalle freilich nicht gegeben; er hat nach seinem eigenen Worte „statt solcher nur einige sehr oberflächliche Blicke hingeworfen“. Und auch nach Lassalle hat es niemand unternommen, diesen Nachweis zu erbringen. Doch wenn sich jemand gefunden hätte, der den Versuch gewagt hätte, so wäre damit noch lange nicht die Notwendigkeit dieser Entwicklung dargetan gewesen. Mit den Begriffskonstruktionen der vom Hegelschen Geiste erfüllten spekulativen Jurisprudenz lassen sich bestenfalls geschichtliche Entwicklungstendenzen der Vergangenheit erweisen; dass die entdeckte Entwicklungsrichtung auch weiter verfolgt werden müsse, ist eine durchaus willkürliche Annahme. Erst wenn man in der Lage wäre, aufzuzeigen, dass die Kraft, die hinter der Entwicklungstendenz steht, noch fortwirke, wäre der hypothetische Beweis, den wir benötigen, erbracht. Das aber liegt dem Hegelianer Lassalle ferne. Für ihn ist die Sache damit erledigt, dass ihm deutlich wird, „dass diese fortschreitende Verminderung des Privateigentumsumfanges auf nichts anderem als der positiven Entwicklung der menschlichen Freiheit beruht“. Denn nun hat er sein Entwicklungsgesetz in das große Hegel’sche Schema der geschichtlichen Entwicklung eingefügt und so alles geleistet, was die Schule verlangen kann.
Marx hat die Mängel des Hegelschen Entwicklungsscheines erkannt. Auch er hält es für eine nicht zu bezweifelnde Wahrheit, dass der Weg der Geschichte vom Privateigentum zum Staatseigentum führe. Doch bei ihm ist nicht wie bei Hegel und Lassalle von der Idee und von dem juristischen Begriffe des Eigentums die Rede. Das Privateigentum „in seiner nationalökonomischen Bewegung“ treibt zu seiner Auflösung fort, „aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewusstlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewusste Elend, die ihrer Entmenschung bewusste und sich selbst aufhebende Entmenschung“. Damit wird die Lehre vom Klassenkampf als dem treibenden Element der geschichtlichen Entwicklung eingeführt. Und das erleben wir heute aller Orten, jedenfalls gibt es immer Anbieter für solche Thesen, vor allem in krisenhaften Situationen – und das von den Sozialdemokraten bis hin zu den Nationalen und Kommunisten.
Die einfachste Art, in der wir uns die Entwicklung der Gesellschaft vorzustellen vermögen, ist die Unterscheidung zweier Entwicklungsrichtungen, die sich zueinander verhalten wie Ausdehnung in die Tiefe und Ausdehnung in die Breite. Die Vergesellschaftung schreitet in subjektiver und in objektiver Hinsicht fort: in subjektiver Hinsicht durch die Erweiterung des Menschenkreises, den sie umfasst, in objektiver Hinsicht durch Erweiterung der Ziele des Handelns, die sie einbegreift. Ursprünglich auf den engsten Personenkreis, auf die unmittelbaren Nachbarn begrenzt, wird die Arbeitsteilung allmählich allgemeiner, um schließlich alle Menschen, die die Erde bewohnen, zu umfassen. Dieser Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist und auch früher in der Geschichte nie abgeschlossen war, ist ein endlicher. Er wird am Ziele angelangt sein, wenn alle Menschen der Erde ein einheitliches System gesellschaftlicher Arbeitsteilung bilden werden. Hand in Hand mit diesem Prozess der Ausbreitung der gesellschaftlichen Bindung geht der ihrer Vertiefung. Das gesellschaftliche Handeln umfasst immer mehr Ziele; das Gebiet, auf dem das Individuum selbstgenügsam für sich sorgt, wird immer enger. Es hat wenig Sinn, sich die Frage vorzulegen, ob auch dieser Prozess schließlich zu einer vollständigen Aufsaugung des autarken Handelns einzelner und engerer Kreise durch das gesellschaftlich orientierte Handeln führen kann oder nicht.
Vergesellschaftung ist immer Zusammenschluss zu gemeinsamem Wirken; Gesellschaft ist immer Frieden, niemals Krieg. Vernichtungskampf und Krieg sind Entgesellschaftung. Das verkennen alle jene Theorien, die den gesellschaftlichen Fortschritt als ein Ergebnis von Kämpfen menschlicher Gruppen auffassen.
Das Schicksal des einzelnen ist durch sein „Sein“ eindeutig bestimmt. Alles was ist, ist aus seinem Werden mit Notwendigkeit hervorgegangen, und alles, was sein wird, fließt mit Notwendigkeit aus dem, was ist. Der augenblickliche Zustand ist das Ergebnis der Geschichte. Wer sie ganz verstehen könnte, würde auch alle Zukunft vorhersagen können. Man hat lange geglaubt, von der Determiniertheit (ist die Auffassung, dass alle – insbesondere auch zukünftige – Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind) alles Geschehens das menschliche Wollen und Handeln ausnehmen zu müssen, weil man den besonderen Sinn der „Zurechnung“ dieser allem rationalen Handeln und nur ihm eigentümlichen Denkoperation, nicht erfasst hatte und gemeint hat, dass kausale Erklärung und Zurechnung unverträglich wären. Das ist heute überwunden. Nationalökonomie, Rechtsphilosophie und Ethik haben das Zurechnungsproblem soweit geklärt, dass die alten Missverständnisse ausgemerzt werden konnten.
Wenn wir die Einheit, die wir das Individuum nennen, in bestimmte Komplexe zerlegen wollen, um unserer Erkenntnis den Weg zu erleichtern, dann müssen wir uns darüber klar sein, dass eine Rechtfertigung unseres Vorgehens nur in dem heuristischen (bezeichnet die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen) Wert der Einteilung gesucht werden kann. Vor der Strenge erkenntniskritischer Prüfung kann die Sonderung des im Wesen Gleichartigen nach äußerlichen Merkmalen nie bestehen. Nur unter diesen Einschränkungen kann man daran gehen, die Determinanten des individuellen Lebens gruppenweise zusammenfassen.
Das, was der Mensch mit der Geburt mit auf die Welt bringt, das Angeborene, nennen wir das Erbgut oder kurz die Art. Das Angeborene im Menschen ist der Niederschlag der Geschichte aller seiner Ahnen und ihres Schicksals, alles dessen, was sie erlebt haben. Das Leben und das Schicksal des Einzelnen beginnen nicht mit der Geburt, sie verlieren sich nach rückwärts in unendliche und unausdenkbare Fernen. Der Nachkomme erbt von den Ahnen; das ist eine Tatsache, die außerhalb des Streites steht, der sich um die Vererbung erworbener Eigenschaften dreht.
Nach der Geburt beginnt das unmittelbare Erleben. Die Einwirkung der Umwelt, des Milieus, setzt ein; aus ihrer Verbindung mit dem Ererbten resultiert das Sein des Individuums in jedem Augenblicke des Lebens. Das Milieu ist natürliches Milieu als Boden, Klima, Nahrung, Fauna, Flora, kurz als Naturumgebung. Es ist soziales Milieu als Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Kräfte, die auf den Einzelnen einwirken, sind Sprache, Stellung im Arbeits- und Austauschprozess, Ideologie und die Zwangsmächte: freie Gewalt und geregelte Gewalt; die geregelte Gewaltorganisation nennen wir dann Staat.
Die Abhängigkeit des Menschenlebens vom natürlichen Milieu pflegen wir uns seit Darwin metaphorisch (s. o.) durch die Vorstellung eines Kampfes gegen feindliche Gewalten verständlich zu machen. Das war unbedenklich, solange man nicht daran dachte, die bildliche Ausdrucksweise auf ein Gebiet zu übertragen, auf dem sie ganz und gar unangebracht war und zu schweren Irrtümern Anlass geben musste. Als man die Formeln des Darwinismus, die aus der Übernahme von Gedanken, die die Sozialwissenschaft entwickelt hatte, in der Biologie entstanden waren, wieder in die Sozialwissenschaft zurückzuführen begann, vergaß man, was sie ursprünglich zu bedeuten hatten. So entstand jenes Ungeheuer des soziologischen Darwinismus, das, in romantische Verherrlichung des Krieges und des Menschenmordes einmündend, ganz besonders dazu beigetragen hat, die geistige Atmosphäre zu schaffen, aus der die Weltkriege und die sozialen Kämpfe der Gegenwart entstehen konnten.
Das regulierende Prinzip, das innerhalb der Gesellschaft den Ausgleich trifft zwischen der Beschränktheit der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel auf der einen Seite und der weniger beschränkten Vermehrungsfähigkeit der Menschen auf der anderen Seite, ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Indem es das Maß des Anteils am Sozialprodukte, das jedem Menschen zufällt, von dem ihm, d. h. seiner Arbeit und seinem Besitze ökonomisch zugerechneten Ertrage abhängig macht, wird die Ausmerzung der Überzähligen durch den Kampf ums Dasein, wie er im Pflanzen- und im Tierreiche wütet, durch die Beschränkung der Nachkommenschaft aus gesellschaftlichen Rücksichten ersetzt. An Stelle des Kampfes ums Dasein tritt die moralische Zurückhaltung, die durch die gesellschaftliche Stellung auferlegte Beschränkung der Zahl der Nachkommen.
In der Gesellschaft gibt es keinen Kampf ums Dasein. In der Berufung auf Darwins Hypothese, die man lange als eine unumstößliche Tatsache der Wissenschaft angesehen hat, glaubten Marxismus, Rassenkampftheorie und Nationalismus ihren Lehren eine nicht zu erschütternde Grundlage zu geben. Der moderne Imperialismus stützt sich ganz besonders auf die Schlagwörter, in die die Vulgärwissenschaft den Darwinismus umgeprägt hat.
Die darwinistischen - oder richtiger pseudo-darwinistischen - Sozialtheorien verkennen die Hauptschwierigkeit, die der Übertragung der Darwinschen Redewendung vom Kampfe ums Dasein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse entgegensteht. Der Kampf ums Dasein tobt in der Natur zwischen Individuen. Nur ausnahmsweise finden wir in der Natur Erscheinungen, die man als Kämpfe zwischen Tiergruppen zu deuten in der Lage wäre; hierher gehören die Kämpfe zwischen „Ameisenstaaten“, die man möglicherweise noch ganz anders auffassen müssen wird als heute. Eine vom Darwinismus ausgehende Sozialtheorie müsste entweder dazu gelangen, den Kampf aller Individuen gegen alle als die natürliche und notwendige Form des Verkehrs zwischen den Menschen zu erklären, und damit die Möglichkeit jeder gesellschaftlichen Verknüpfung leugnen, oder sie müsste imstande sein, einerseits aufzuzeigen, warum innerhalb bestimmter Gruppen Friede herrschen kann und muss, andererseits aber zu beweisen, dass das Prinzip der friedlichen Vereinigung, das zur Bildung dieser Verbände führt, in seiner Wirksamkeit nicht über den Umkreis der Gruppenmitglieder hinausreicht, so dass zwischen den Gruppen selbst Kampf herrschen müsse. Wenn man ein Prinzip erkennt, das alle Deutschen, alle Dolichokephalen (Langschädel) oder alle Proletarier zum Zusammenschluss treibt und aus den Individuen die besondere Nation, Rasse oder Klasse bildet, ist es nicht möglich, zu zeigen, dass dieses Prinzip nur innerhalb der Kollektivgruppen wirksam ist. Diese Gesellschaftstheorien gleiten über dieses Problem in der Weise hinweg, dass sie sich darauf beschränken, die Solidarität der Interessen innerhalb der Gruppen wie selbstverständlich ohne jede weitere Erörterung als bewiesen anzunehmen und sich allein damit befassen, die Gegensätzlichkeit der Interessen zwischen den Gruppen und die Notwendigkeit des Kampfes als des alleinigen Triebmittels der geschichtlichen Entwicklung zu beweisen. Doch wenn der Krieg oder der Kampf schlechthin der Vater aller Dinge sein soll, wenn er den geschichtlichen Fortschritt herbeiführt, dann ist nicht zu verstehen, warum die Wirksamkeit dieses wohltätigen Prinzips durch Frieden innerhalb der Staaten, Völker, Rassen und Klassen beschränkt sein muss. Wenn die Natur den Krieg fordert, warum fordert sie nicht den Krieg aller gegen alle, bloß den aller Gruppen gegen alle Gruppen? Die einzige Theorie, die erklärt, wie zwischen den Individuen Frieden möglich ist und aus den Individuen Gesellschaft wird, ist die  Sozialtheorie der Arbeitsteilung. Hat man diese Theorie aber einmal angenommen, dann ist es nicht mehr möglich, die Feindschaft der Kollektivgebilde als notwendig anzusehen. Wenn Brandenburger und Hannoveraner friedlich in der Gesellschaft nebeneinander leben, warum können es nicht auch Deutsche und Griechen?
Der soziologische Darwinismus ist überhaupt nicht imstande, das Phänomen der Vergesellschaftung zu erklären; er ist keine Gesellschaftstheorie sondern „eine Theorie der Ungeselligkeit“.
Es ist eine beschämende Tatsache, die uns den Verfall der Soziologie in den letzten Jahrzehnten erst recht deutlich ins Bewusstsein rückt, dass man den soziologischen Darwinismus nun damit zu bekämpfen beginnt, dass man auf die von der Biologie im Pflanzen- und Tierreiche erst spät entdeckten Beispiele von gegenseitiger Hilfe, von Symbiose (bezeichnet in Europa die Vergesellschaftung von Individuen unterschiedlicher Arten, die für beide Partner vorteilhaft ist), hinweist. Ein trutziger Verneiner der  Gesellschaftslehre, der das, was er ablehnte und bekämpfte, nie kennengelernt hatte, Kropotkin, fand unter Tieren Ansätze von gesellschaftlichen Verknüpfungen und stellte sie dem Kampfe gegenüber, das wohltätige Prinzip der wechselseitigen Unterstützung dem schädlichen des Kampfes bis aufs Messer entgegensetzend. Ein ganz in den Ideen des marxistischen Sozialismus befangener Biologe, Kammerer, zeigte, dass in der Natur außer dem Kampfprinzip das der Hilfe im Leben obwalte. Die Biologie kehrt mit dieser Erkenntnis dorthin zurück, wo sie, von der Soziologie ausgehend, begonnen hatte; sie bringt der Gesellschaftslehre das Prinzip der Arbeitsteilung wieder zurück, das sie von ihr empfangen hatte. Sie lehrt die Soziologie nichts Neues, nichts, was nicht schon dem Wesen nach in der Arbeitsteilungstheorie der vielgeschmähten klassischen Nationalökonomie enthalten gewesen wäre.
Die naturrechtlichen Gesellschaftstheorien gehen von dem Dogma der Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, aus. Weil alle Menschen gleich seien, hätten sie einen natürlichen Anspruch darauf von der Gesellschaft als vollberechtigte Mitglieder behandelt zu werden; und weil jedermann ein natürliches Recht auf Existenz habe, wäre es ein Unrecht, seinem Leben nachzustellen. So erscheinen die Postulate der Allgemeinheit der Gesellschaft, der Gleichheit in ihr und des Friedens begründet. Unsere hier aufgezeigte Theorie leitet sie dagegen aus der Utilität (Nützlichkeit) ab. Für sie decken sich die Begriffe Gesellschaftsmensch und Mensch. Wer fähig ist, den Vorteil des Friedens und der gesellschaftlichen Arbeitsvereinigung einzusehen, ist als Glied der Gesellschaft willkommen. Der eigene Vorteil eines jeden Mitgliedes empfiehlt es, ihn als gleichberechtigten Bürger zu behandeln. Nur der, der ohne jegliche Rücksicht auf die Vorteile, die das friedliche Zusammenwirken bietet, den Vernichtungskampf der Arbeitsvereinigung vorzieht und sich nicht in die gesellschaftliche Ordnung einfügen will, muss bekämpft werden. Das ist die Stellung, die man dem asozialen Verbrecher gegenüber notgedrungen einnehmen muss. Krieg kann vom nur als Abwehr und Verteidigung gebilligt werden.
Der Weg, auf dem die asozialen Gesellschaftstheorien den Versuch machten, das Friedensprinzip in Verruf zu bringen, war die Verwischung des grundsätzlichen Unterschiedes, der zwischen Kampf und Wettbewerb besteht. Kampf im ursprünglichen Sinne des Wortes ist das auf Vernichtung des Lebens des Gegners abzielende Ringen von Menschen und Tieren. Das gesellschaftliche Leben des Menschen beginnt mit der Überwindung der Instinkte und Erwägungen, die zum Vernichtungskampf treiben. Die Geschichte zeigt uns ein stetiges Zurückweichen des Kampfes als einer Form menschlicher Beziehungen; die Kämpfe werden seltener und verlieren gleichzeitig auch an Schärfe. Der überwundene Gegner wird nicht mehr vernichtet, ist es irgendwie angängig, ihn in die Gesellschaft aufzunehmen, so schont man sein Leben. Der Kampf selbst wird durch die Regeln, an die er gebunden wird, einigermaßen gemildert. Doch Krieg und Revolution bleiben trotz alledem Vernichtung und Zerstörung.
Es ist nichts als eine Metapher, wenn man den Wettbewerb Wettkampf oder Kampf schlechthin nennt. Die Funktion des Kampfes ist Vernichtung, die des Wettbewerbes Aufbau. Der Wettbewerb im Wirtschaftsverkehr sorgt dafür, dass die Produktion in rationellster Weise betrieben werde. Hier wie überall sonst wirkt er als Auslese des Besten. Er ist ein Grundprinzip des gesellschaftlichen Zusammenwirkens, das unter keinen Umständen ausgeschaltet werden kann. Auch ein sozialistisches Gemeinwesen könnte ohne Wettbewerb nicht bestehen. Es müsste versuchen, ihn in irgendeiner Weise, etwa durch Prüfungen, einzuführen; die Wirksamkeit einer sozialistischen Lebensordnung wird davon abhängen, ob es ihr möglich sein wird, den Wettbewerb genügend rücksichtslos und scharf zu machen, damit er seine Auslesefunktion erfülle. Das das bisher nicht gelungen ist, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung.
Drei Vergleichspunkte sind es, an die der bildhafte Gebrauch des Wortes Kampf für Wettbewerb anknüpft. Sowohl zwischen den Gegnern im Kampfe als auch zwischen den Konkurrenten im Wettkampfe besteht Feindseligkeit und Gegensätzlichkeit der Interessen. Der Hass, den ein Krämer seinem unmittelbaren Konkurrenten nachträgt, mag oft nicht geringer sein als der, den ein Montenegriner gegen den Muslim empfunden hat. Doch die Affekte, mit denen die Menschen ihr Handeln begleiten, sind für die gesellschaftliche Funktion des Handelns ohne Bedeutung. Was der einzelne empfindet, ist gleichgültig, solange sein Handeln sich innerhalb der von der Gesellschaftsordnung gesteckten Grenzen bewegt. 
Den zweiten Vergleichspunkt erblickt man in der Auslesewirkung von Kampf und Wettkampf. Wieweit der Kampf als Auslese der Besten wirkt, soll dahingestellt bleiben; es wird noch zu zeigen sein, dass viele den Kriegen und Revolutionen antiselektorische (der Auslese und Höherentwicklung feindlich) Wirkung zuschreiben. Keinesfalls aber geht es an, darüber, dass Kampf und Wettkampf Auslesefunktion erfüllen, die Wesensverschiedenheit, die zwischen ihnen besteht, zu übersehen.
Den dritten Vergleichspunkt sucht man in den Folgen, die die Niederlage für den Überwundenen nach sich zieht. Der Überwundene werde vernichtet, sagt man, und bedenkt nicht, dass in dem einen Fall von Vernichtung nur bildlich gesprochen werden kann. Wer im Kampf unterliegt, wird getötet; auch im modernen Kriege, in dem man die Besiegten schont, fließt Blut. Im Konkurrenzkampf werden, heißt es, wirtschaftliche Existenzen vernichtet. Doch das bedeutet nichts anderes, als dass die Unterliegenden genötigt werden, sich eine andere Stellung in dem Gefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auszusuchen als die, die sie gerne einnehmen wollten. Es bedeutet aber durchaus nicht, dass sie etwa dem Hungertod preisgegeben werden. In der kapitalistischen Gesellschaft ist für alle Raum und Brot. Ihre Ausdehnungsfähigkeit ermöglicht jedem Arbeiter ein Unterkommen; im statischen Zustand kennt sie keine Arbeitslosen.
Der Kampf im eigentlichen und ursprünglichen Sinne des Wortes ist asozial; er macht zwischen den Kämpfenden Arbeitsgemeinschaften, das Grundelement der gesellschaftlichen Vereinigung, unmöglich; er zerstört die Arbeitsgemeinschaft, wo sie schon besteht. Der Wettbewerb ist ein Element des gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Er ist das ordnende Prinzip im gesellschaftlichen Verbande. Kampf und Wettkampf sind gesellschaftsdynamisch die schärfsten Gegensätze.
Mit dieser Erkenntnis erlangt man die Grundlage zur Beurteilung aller jener Theorien, die das Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung im Kampfe widerstreitender Gruppen erblicken. Klassenkampf, Rassenkampf, Nationalitätenkampf können nicht das aufbauende Prinzip sein; aus Zerstörung und Vernichtung wird niemals ein Bau entstehen.
Das wichtigste Mittel der gesellschaftlichen Kooperation ist die Sprache. Die Sprache schlägt die Brücke über die Kluft, die die Individuen trennt; nur vermittels der Sprache kann der Mensch das, was ihn bewegt, dem anderen wenigstens einigermaßen mitteilen. Was die Sprache für das Denken und Wollen noch sonst zu bedeuten hat, wie sie das Denken und Wollen bedingt und ohne sie kein Denken, nur Instinkt, und kein Wollen, nur Trieb, bestehen kann, ist heute nicht zu erörtern. Auch das Denken ist eine gesellschaftliche Erscheinung, nicht das Erzeugnis des isolierten Geistes, sondern ein Kind wechselseitiger Anregung und Befruchtung der gleichen Zielen mit vereinten Kräften zustrebenden Menschen. Auch die Arbeit des einsamen Denkers, der in Zurückgezogenheit über Probleme brütet, um die sich nur wenige Menschen Sorge machen, ist Gespräch, ist Wechselrede mit dem Gedankengut, das als das Erzeugnis der Geistesarbeit zahlloser Geschlechter in der Sprache, in den Begriffen des Alltags und in der schriftlichen Überlieferung niedergelegt ist. Das Denken ist an die Sprache gebunden. Auf den Sprachelementen baut sich das Begriffsgebäude des Denkers auf.
Der menschliche Geist lebt nur in der Sprache; im Wort erst ringt er sich von dem Dunkel der Unklarheit und der Verschwommenheit des Instinkts zu der Klarheit durch, die ihm überhaupt erreichbar ist. Das Denken und das Gedachte sind von der Sprache, der sie ihre Entstehung verdanken, nicht mehr loszulösen. Es mag sein, dass wir einmal eine Weltsprache erhalten werden. Das wird gewiss nicht auf dem Wege geschehen, den die Erfinder des Volapük (ist eine gemischte Aposteriori-Plansprache), des Esperanto (ist die am weitesten verbreitete internationale Plansprache) und anderer ähnlicher Erzeugnisse einzuschlagen versucht haben. Die Schwierigkeiten, die der Weltsprache und der Völkerverständigung entgegenstehen, können nicht dadurch überwunden werden, dass man für die Bezeichnungen des täglichen Lebens und für das, was jene auszudrücken wünschen, die sprechen, ohne viel zu denken, identische Silbenverbindungen ausheckt. Das Unübersetzbare, das den Begriffen anhaftet und in den Worten mitschwingt, trennt die Sprachen, nicht nur die Verschiedenheiten des Klanges der Wörter, die sich restlos übertragen lassen. Wenn man überall auf Erden für „Kellner“ und für „Haustor“ dieselbe Bezeichnung verwenden würde, so würde dies noch lange nicht die Aufhebung der Trennung der Sprachen und Nationen bedeuten. Doch wenn es einst dazu kommen sollte, dass alles in einer Sprache Ausgedrückte restlos in andere Zungen übertragen werden könnte, dann wäre die Spracheinheit auch ohne den Gleichklang der Silben erreicht. Dann würden die verschiedenen Sprachen nur noch verschiedene Zungen sein; dann würde der Flug des Gedankens von Volk zu Volk nicht länger gehemmt werden durch die Unübersetzbarkeit des Wortes.
Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, - und es ist nicht unmöglich, dass er nie erreicht werden wird - ergeben sich aus dem Nebeneinanderleben von Angehörigen verschiedener Völker in den gemischtsprachigen Gebieten politische Reibungen, die zur Entstehung von scharfen politischen Gegensätzen führen können. Aus diesen Streitigkeiten ist - mittelbar und unmittelbar - der moderne Völkerhass entsprungen, auf dem der moderne Imperialismus fußt.
Die imperialistische Theorie macht sich ihre Aufgabe sehr leicht, wenn sie sich darauf beschränkt, den Nachweis zu erbringen, dass zwischen den Nationen Gegensätze bestehen. Um die Richtigkeit ihrer Ausführungen zu beweisen, hätte sie auch dartun müssen, dass innerhalb der Nationen Interessensolidarität besteht. Die nationalistisch-imperialistische Lehre ist als Reaktion gegen den ökumenischen Solidarismus der Freihandelsdoktrin aufgetreten. Die Geistesverfassung, in der sie die Menschen vorfand, war die kosmopolitische Idee des Weltbürgertums und der Völkerverbrüderung. So dachte sie, dass es genügen könnte, den Nachweis zu führen, dass zwischen den einzelnen Nationen Gegensätze der Interessen bestehen, und übersah ganz, dass alle jene Argumente, mit denen sie die Unverträglichkeit der nationalen Interessen dartun will, auch mit derselben Berechtigung die Unverträglichkeit der regionalen und schließlich auch der persönlichen Interessen der einzelnen beweisen könnten. Wenn es dem Deutschen schädlich sein soll, englisches Tuch und russisches Getreide zu konsumieren, so muss wohl auch dem Berliner der Genuss von bayrischem Bier und Pfälzer Wein Schaden bringen. Wenn es nicht gut tut, die Arbeitsteilung über die Grenzen des Staates oder des Volksgebietes hinausgreifen zu lassen, dann wird es wohl überhaupt am Ende das Richtigste sein, zur Selbstgenügsamkeit der geschlossenen Hauswirtschaft zurückzukehren. Das Schlagwort: fort mit den fremden Waren! führt, genau genommen, schließlich zur Aufhebung aller Arbeitsteilung. Denn das Prinzip, das die internationale Arbeitsteilung als vorteilhaft erscheinen lässt, ist kein anderes als das, das die Arbeitsteilung überhaupt empfiehlt.
Es ist kein Zufall, dass heutzutage gerade das deutsche Volk unter allen Völkern am wenigsten Sinn für nationalen Zusammenhalt hat, und dass es unter allen Völkern Europas am spätesten Verständnis für die politische Einigung zu einem alle Mitglieder umfassenden Staatswesen gezeigt hat. Die Idee der nationalen Einigung ist ein Kind des Freihandels und des laissez faire (einfach laufen lassen). Die Deutschen, die sich, gerade aus dem Umstande heraus, dass sie infolge ihrer Siedlungsverhältnisse am frühesten die Nachteile der nationalen Vergewaltigung in den gemischtsprachigen Gebieten kennen gelernt haben, hatten nicht die geistigen Mittel zur Hand, um den Regionalismus und die Sonderbestrebungen einzelner Gruppen zu überwinden. Und es ist wiederum kein Zufall, dass das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit bei keinem zweiten Volke stärker entwickelt ist als bei den Angelsachsen.
Es ist ein verhängnisvoller Irrwahn der Imperialisten, wenn sie glauben, durch die Abweisung des Kosmopolitismus den Zusammenhalt des Volkes zu kräftigen. Sie übersehen, dass das asoziale Grundelement ihrer Lehre, folgerichtig angewendet, zur Zerreißung jeder gesellschaftlichen Gemeinschaft führen muss.
Man kann das allen Anforderungen, die an das wissenschaftliche Denken gestellt werden müssen, hohnsprechende Vorgehen jener Rassentheoretiker (z. B.: Sarazin), die leichten Herzens ohne jedes kritische Bedenken Rassen unterscheiden und Rassenmerkmale aufstellen, nicht genug scharf verurteilen. Es ist nicht zu bestreiten, dass es ihnen dabei mehr um die Schaffung von Schlagwörtern für den politischen Kampf als um die Förderung der Erkenntnis zu tun ist. Doch die Kritiker des rassentheoretischen Dilettantismus machen sich ihre Sache zu leicht, wenn sie ihr Augenmerk lediglich auf die konkrete Gestalt, die die einzelnen Schriftsteller der Lehre geben, und auf den Inhalt ihrer Aussagen über die einzelnen Rassen, ihre leiblichen Merkmale und ihre seelischen Eigenschaften richten. Auch wenn man die willkürlichen, jeder Begründung entbehrenden und widerspruchsvollen Hypothesen  als leere Hirngespinste zurückgewiesen hat, bleibt doch ein Kern der Rassentheorie bestehen, der von der konkreten Unterscheidung edler und unedler Rassen unabhängig ist.
Die Ergebnisse der „wissenschaftlichen“ Rassenforschung sind keineswegs imstande, die Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung irgendwie zu widerlegen; sie bestätigen sie eher. Die Rassentheorien Sarazins und vieler anderer sind aus dem Groll einer unterlegenen Militär- und Adelskaste gegen bürgerliche Demokratie und kapitalistische Wirtschaftsführung entstanden. Sie haben für den Gebrauch der modernen imperialistischen Tagespolitik eine Fassung angenommen, die sie als eine Wiedergeburt der alten Gewalt- und Kriegstheorien erscheinen lassen. Doch sie sind nur gegen die naturrechtlichen Schlagwörter verwendbar; der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie können sie nichts entgegenhalten. Auch die Rassentheorie vermag den Satz, dass alle Kultur das Werk der friedlichen Kooperation der Menschen ist, nicht zu erschüttern.
In der gesellschaftlichen Arbeitsgemeinschaft nimmt der Einzelne jeweils eine bestimmte Stellung ein, durch die sein Verhältnis zu allen übrigen Gliedern der Gesellschaft gegeben ist. Die Beziehung, die ihn mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft verbindet, ist die Tauschbeziehung. Als Gebender und Empfangender, als Verkäufer und Käufer gehört er der Gesellschaft an. Dabei muss seine Stellung durchaus nicht immer eindeutig sein. Es kann einer zugleich Grundbesitzer, Lohnarbeiter und Kapitalbesitzer sein, ein anderer zugleich Unternehmer, Angestellter und Grundbesitzer, ein dritter zugleich Unternehmer, Banker und Grundbesitzer usf. Es kann einer zugleich Käse und Körbe erzeugen und sich daneben gelegentlich als Tagelöhner verdingen usf. Aber auch die Lage jener, die sich in annähernd gleicher Stellung befinden, unterscheidet sich nach den besonderen Verhältnissen, in denen sie auf dem Markte auftreten. Auch als Käufer für den Eigenverbrauch ist jeder je nach seinen besonderen Bedürfnissen in anderer Stellung. Auf dem Markte gibt es immer nur einzelne Individuen; der Marktverkehr der freien Wirtschaftsverfassung wirkt atomisierend, wie man - meist in tadelndem und bedauerndem Sinn - zu sagen pflegt. Selbst Marx musste ausdrücklich erklären: „Da Käufe und Verkäufe nur zwischen einzelnen Individuen abgeschlossen werden, so ist es unzulässig, Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaftsklassen darin zu suchen“.
Fasst man die Gesamtheit jener, die sich in annähernd gleicher gesellschaftlicher Lage befinden, unter der Bezeichnung Gesellschaftsklasse zusammen, dann muss man dessen eingedenk bleiben, dass damit noch nichts für die Klärung der Frage, ob den Klassen eine besondere Bedeutung im gesellschaftlichen Leben zukommt, getan ist. Schematisieren und Klassifizieren an sich haben noch keinen Erkenntniswert. Erst die Funktion, die die Begriffe in den Theorien, in die sie eingefügt werden, zu erfüllen haben, verleiht ihnen eine Bedeutung für die Wissenschaft; isoliert und außerhalb des Zusammenhangs mit derartigen Theorien sind sie nichts als unfruchtbares Gedankenspiel. Daher ist es noch lange kein Beweis für die Brauchbarkeit der Klassentheorie, wenn man darauf hinweist, die Tatsache, dass die Menschen sich in verschiedener gesellschaftlicher Lage befinden, sei evident, man könne mithin den Bestand von Gesellschaftsklassen nicht bestreiten. Nicht auf die Tatsache der Verschiedenheit der gesellschaftlichen Stellung der einzelnen kommt es an, sondern darauf, welche Bedeutung diese Tatsache für das gesellschaftliche Zusammenleben hat.
Dass der Gegensatz von arm und reich wie überhaupt wirtschaftliche Gegensätze jeglicher Art in der Politik eine große Rolle spielen, war seit alters her allgemein bekannt. Nicht minder bekannt war die Bedeutung, die der Stände- und Kastenunterschiede, d. h. die Verschiedenheit der Rechtsstellung, die Ungleichheit vor dem Gesetz, in der Geschichte gespielt hat. Auch die klassische Nationalökonomie hat dies nicht bestritten. Sie hat aber unternommen, zu zeigen, dass alle diese Gegensätze nur aus verkehrten politischen Einrichtungen entspringen. Zwischen den richtig verstandenen Interessen der Einzelnen bestehe keine Unverträglichkeit. Die vermeintlichen Interessengegensätze, die früher eine große Rolle gespielt haben, seien auf die Unkenntnis der Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens zurückzuführen. Nun, da man die Identität aller richtig verstandenen Interessen erkannt habe, werde man sich im politischen Kampf der alten Argumente nicht mehr bedienen können.
Doch die klassische Nationalökonomie, die auf der einen Seite die Lehre von der Solidarität der Interessen verkündet, legt in ihrem System selbst den Grundstein zu einer neuen Theorie des Klassengegensatzes. Die Merkantilisten (Die sog. Klassiker unter den Nationalökonomen haben sich noch die wirtschaftlichen Abläufe ausschließlich als Akte menschlicher Individuen vorgestellt, die unter sich freie Verträge schlossen, um in diesem Sinne einer Welt gegenüberzutreten, die durch ausschließlich objektive Bedingungen bestimmt war.) hatten in den Mittelpunkt der Sozialökonomik - als Lehre vom objektiven Reichtum betrachtet - die Güter gestellt. Die große Tat der Klassiker ist es, neben die Güter den wirtschaftenden Menschen zu stellen, womit sie der modernen Nationalökonomie, die im Mittelpunkt ihres Systems den Menschen und seine subjektive Wertschätzung allein stehen lässt, den Weg bereiten. Das System, in dem Mensch und Gut nebeneinander stehen, zerfällt aber schon äußerlich in zwei Teile, in den, der die Bildung, und in den, der die Verteilung des Reichtums behandelt. Je mehr die Nationalökonomie zur strengen Wissenschaft, zu einem System der Katallaktik (freie menschliche Marktinteraktion als treibende Kraft zur Findung von komplexen ökonomischen Problemstellungen) wird, desto mehr tritt diese Auffassung von ihrem Wesen zurück, doch der Begriff der Verteilung bleibt vorerst noch stehen. Mit ihm verknüpft sich dann unwillkürlich die Vorstellung einer Trennung des Produktions- und des Verteilungsprozesses. Die Güter werden zunächst gesellschaftlich erzeugt und dann aufgeteilt. Die Vorstellung, dass Produktion und „Verteilung“ unzertrennlich miteinander verknüpft sind, mag noch so klar sein, das unglückselige Wort „Verteilung“ drängt sie doch immer wieder mehr oder weniger zurück.
Sobald man aber einmal die Vorstellung einer Verteilung gefasst hat und das nationalökonomische Zurechnungsproblem als Verteilungsproblem ansieht, sind Missverständnisse kaum noch zu vermeiden. Denn die Zurechnungslehre oder, um einen Ausdruck zu gebrauchen, der der Fassung dieses Problems durch die Klassiker besser entspricht, die Einkommenslehre muss zwischen den verschiedenen Kategorien der Produktionsfaktoren unterscheiden, mag auch für alle das gleiche Grundprinzip der Wertbildung zur Anwendung gebracht werden. Für sie ist eine Trennung der „Arbeit“ vom „Kapital“ und vom „Boden“ gegeben. Und nichts liegt dann näher als eine Vorstellung, die Arbeiter, Kapitalisten und Bodenbesitzer als getrennte Klassen ansieht, wie dies zuerst von Ricardo in der Vorrede zu seinen Principles geschieht. Gefördert wird diese Auffassung durch den Umstand, dass die Klassiker den „Profit“ nicht in seine Bestandteile spalten, so dass das Bild, das die Gesellschaft in drei große Klassen zerlegt sieht, nicht gestört wird.
Ricardo geht aber noch weiter. Indem er aufzeigt, wie auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung - „in different stages of society“ (in verschiedenen Stufen der Gesellschaft) - die verhältnismäßigen Anteile an dem Gesamtprodukt, die jeder der drei Klassen zufallen, verschieden sind, dehnt er den Klassengegensatz auch auf die Dynamik aus. Darin folgen ihm die späteren nach. Und hier ist es, wo Marx mit seiner ökonomischen Theorie, die im „Kapital“ vorgetragen wird, anknüpft. In seinen älteren Schriften, vor allem in den einleitenden Worten des Kommunistischen Manifests, fasst er die Begriffe Klasse und Klassengegensatz noch in dem alten Sinn eines Gegensatzes der rechtlichen Stellung und der Vermögensgröße auf. Die Verbindung zwischen beiden Vorstellungen wird durch die Auffassung des modernen Arbeitsverhältnisses als einer Herrschaft der Besitzer über die Arbeiter hergestellt. Marx hat es unterlassen, den Begriff der Klasse, der für seine Lehre von grundlegender Bedeutung ist, genau zu umschreiben. Er sagt nicht, was Klasse ist, sondern beschränkt sich darauf, zu sagen, in welche „große Klassen“ die moderne, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhende Gesellschaft zerfällt. Dabei folgt er genau der Einteilung Ricardos, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass für Ricardo die Unterscheidung der Klassen lediglich in der Katallaktik (s. o.) Bedeutung hat.
Der Erfolg, den die marxistische Theorie der Klassen und des Klassenkampfes errungen hat, war ungeheuer groß. Heute sind die Unterscheidung von Klassen innerhalb der Gesellschaft und der Bestand von unüberbrückbaren Klassengegensätzen fast allgemein anerkannt. Auch die, die den Frieden zwischen den Klassen wünschen und anstreben, bestreiten in der Regel nicht, dass es Klassengegensätze gebe und dass zwischen den Klassen Kämpfe geführt werden. Doch der Begriff der Klasse blieb nach wie vor unklar. Wie bei Marx selbst, so schillert er auch bei allen jenen, die ihm nachfolgten, in allen Farben.
Baut man ihn, was dem System des „Kapital“ entspricht, aus den Produktionsfaktoren des klassischen Systems auf, dann macht man eine Gliederung, die allein für die Zwecke der Katallaktik (s. o.) ersonnen war und nur in ihr Berechtigung hat, zur Grundlage allgemein soziologischer Erkenntnis. Man übersieht, dass die Zusammenfassung der Produktionsfaktoren in zwei, drei oder vier große Gruppen lediglich eine Frage des nationalökonomischen Systems ist, und dass sie allein in diesem System Geltung haben kann. Dass man gewisse Gruppen von Zurechnungspunkten für die Betrachtung zusammenfasst, hat seinen Grund nicht etwa darin, dass zwischen ihnen untereinander eine engere Verwandtschaft bestünde. Der Grund der Zusammenfassung auf der einen und der Sonderung und Gegenüberstellung auf der anderen Seite liegt allein in dem Zweck des Systems, dem sie dienen. Die Sonderstellung des Bodens ist durch die klassische Lehre von der Grundrente gegeben. Boden ist im Sinne des Systems dasjenige Gut, das unter gewissen Voraussetzungen Rente abzuwerfen vermag. Ebenso ist die Stellung des Kapitals als der Quelle des Profits und der Arbeit als der Quelle des Lohns durch die Besonderheit des klassischen Systems gegeben. Für die spätere Auffassung des Verteilungsproblems, die den „Profit“ der klassischen Schule in Unternehmergewinn und Kapitalzins zerlegt, war die Gruppierung der Produktionsfaktoren schon eine ganz andere. Für das Zurechnungsproblem der modernen Nationalökonomie hat die Gruppierung der Produktionsfaktoren nach dem Schema der klassischen Theorie ihre alte Bedeutung verloren. Das, was früher Verteilungsproblem hieß, erscheint nun als Problem der Bildung der Preise der Güter höherer Ordnung. Dass man dabei die alte Einteilung weiterschleppte, hatte nur in dem zähen Konservatismus des wissenschaftlichen Klassifizierens seinen Grund. Eine dem Wesen des Zurechnungsproblems entsprechende Gruppierung müsste von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehen, etwa von der Sonderung der statischen und der dynamischen Einkommenszweige.
In keinem nationalökonomischen System ist das Gemeinsame, das bestimmte Gruppen von Produktionsfaktoren als Einheit erscheinen lässt, in deren natürlichen Eigenschaften oder in einer Leistungsverwandtschaft gegeben. Hier setzt das schwerste Missverständnis der Klassentheorie ein. Sie geht naiver weise von der Annahme einer inneren, durch die natürlichen Bedingungen des Wirtschaftens gegebenen Zusammengehörigkeit zwischen den von ihr zu einer Gruppe zusammengefassten Produktionsfaktoren aus. Zu diesem Behufe konstruiert sie sich einen Einheitsboden, der zumindest für alle Arten landwirtschaftlicher Produktion verwendbar ist, und eine Einheitsarbeit, die alles leisten kann. Es ist schon eine Konzession, der Versuch einer Annäherung an die Wirklichkeit, wenn sie landwirtschaftlich verwendbaren Grund und Boden, durch Bergbau zu nutzenden und städtischen Boden unterscheidet und einen Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit macht. Doch diese Einräumung macht die Sache nicht besser. Auch die qualifizierte Arbeit ist ebenso eine Abstraktion wie die Arbeit schlechthin, und der landwirtschaftliche Boden ist es nicht anders als der Boden schlechthin; und was für uns hier das ausschlaggebende ist, es sind Abstraktionen, die gerade von jenen Merkmalen absehen, die für soziologische Betrachtung entscheidend sind. Wenn es sich um die Besonderheit der Preisbildung handelt, dann mag unter Umständen die Gegenüberstellung der drei Gruppen Boden, Kapital und Arbeit gestattet sein. Aber damit ist durchaus noch nicht bewiesen, dass sie es auch dann ist, wenn es sich um ganz andere Probleme handelt.
Die Theorie des Klassenkampfes vermengt immer wieder die Begriffe Stand und Klasse. Stände sind Rechtseinrichtungen, nicht Tatsachen der Wirtschaftsordnung. Man wird in den Stand hineingeboren, und man verbleibt in der Regel in ihm, bis man stirbt. Sein Leben lang trägt man die Standeszugehörigkeit, die Eigenschaft, Mitglied eines bestimmten Standes zu sein, mit sich herum. Man ist Herr oder Knecht, Freier oder Sklave, Grundherr oder Grundholde, Patrizier oder Plebejer nicht weil man eine bestimmte Stellung im Wirtschaftsleben einnimmt; man nimmt eine bestimmte Stellung im Wirtschaftsleben ein, weil man einem bestimmten Stande angehört. Wohl ist auch die Einrichtung der Stände in dem Sinne von Anfang an eine wirtschaftliche, als sie wie jede Sozialordnung dem Bedürfnis entsprangen ist, die gesellschaftliche Kooperation sicherzustellen. Doch die Gesellschaftstheorie, die ihr zugrundeliegt, ist von unserer Theorie grundsätzlich verschieden. Ihr ist menschliche Kooperation nur denkbar als Nehmen der einen und Geben der anderen. Dass sie ein wechselseitiges Geben und Nehmen sein könne, bei dem jeder Teil gewinnt, ist ihr völlig unfassbar. Einer späteren Zeit, die schon für das Ständewesen, das dem langsam aufdämmernden Gedanken als asozial und, weil auf einseitiger Belastung des Niederen beruhend, als „ungerecht“ zu erscheinen anfing, nach einer Rechtfertigung suchte, entstammt die künstliche Konstruktion einer Wechselseitigkeit auch in diesem Verhältnis; der Höhere gewähre dem Niederen Schutz, Unterhalt, Bodennutzung und dgl. mehr. In dieser Lehre tritt jedoch schon der Verfall der Ständeideologie zutage. Der Blütezeit der Institution waren diese Gedanken fremd. Sie sah die Dinge ungeschminkt als ein Gewaltverhältnis an, wie es in der Urform alles Standesunterschiedes, im Verhältnis von Freien und Unfreien, klar zutage tritt. Dass der Sklave selbst die Einrichtung der Unfreiheit als eine natürliche ansieht und dass er sich unter den gegebenen Umständen mit seinem Lose abfindet, statt Auflehnung und Fluchtversuche so lange fortzusetzen, als er noch atmen kann, ist nicht etwa dadurch zu erklären, dass er findet, die Sklaverei sei eine dem Herrn wie dem Sklaven gleichmäßig Vorteil bringende und billige Einrichtung; es ist einfach die Folge davon, dass er sein Leben nicht durch Widersetzlichkeit gefährden will.
Man hat versucht, die liberale Auffassung der Institution der persönlichen Unfreiheit und, insofern der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien die Urform aller Standesunterschiede ist, damit auch die liberale Auffassung des Ständewesens überhaupt dadurch zu widerlegen, dass man die geschichtliche Rolle der Unfreiheit hervorgehoben hat. Es habe einen Fortschritt der Kultur bedeutet, dass die Knechtung der im Kampfe Überwundenen die Tötung verdrängt habe. Ohne Sklaverei hätte sich eine arbeitsteilige Gesellschaft, in der die gewerbliche Arbeit von der Urproduktion geschieden ist, nicht eher entwickeln können, als bis aller freie Grund und Boden vergeben gewesen wäre, da jeder es vorgezogen hätte, freier Herr auf eigener Scholle als landloser Verarbeiter von Rohstoffen, die andere gewinnen, oder gar als besitzloser Arbeiter auf fremdem Acker zu sein. Da alle höhere Kultur ohne Arbeitsteilung, die einem Teile der Bevölkerung die Möglichkeit bietet, ein von den gemeinen Sorgen um das tägliche Brot befreites Leben der Muße zu führen, undenkbar sei, hatte die Unfreiheit ihre geschichtliche Berechtigung.
Nun kann es wohl für eine den geschichtlichen Ablauf nicht mit den Augen eines moralisierenden Philosophen betrachtende Auffassung gar nicht in Frage kommen, ob eine geschichtliche Institution gerechtfertigt werden könne oder nicht. Dass sie in der Geschichte aufgetreten ist, zeigt, dass Kräfte wirksam waren, um sie zu verwirklichen. Was wir allein zu prüfen vermögen, ist das, ob sie die ihr zugeschriebene Funktion tatsächlich erfüllt hat. Das müssen wir im vorliegenden Fall schlechterdings verneinen. Die Unfreiheit hat den Weg der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktion nicht bereitet; sie hat im Gegenteil den Weg zu ihr versperrt. Erst als die persönliche Unfreiheit beseitigt worden war, konnte sich die moderne industrielle Gesellschaft mit ihrer weit getriebenen Arbeitsteilung entfalten. Dass noch freies herrenloses Land zur Besiedelung vorhanden war, hat weder die Entstehung eines besonderen Gewerbes noch die einer Klasse freier Lohnarbeiter gehindert. Denn das freie Land musste erst urbar gemacht werden, es bedurfte zu seiner Bewirtschaftung einer Reihe von Meliorationsarbeiten und eines Inventars, und schließlich war dieses Land seiner natürlichen Ergiebigkeit nach häufig und seiner Lage nach meist schlechter als das bereits in Bebauung befindliche. Das Sondereigentum an den Produktionsmitteln ist die einzige gesellschaftliche Voraussetzung der Arbeitsteilung; es bedarf nicht der Unfreiheit des Arbeiters, um Arbeitsteilung zu schaffen.
Man verkennt das Wesen der kapitalistischen Wirtschaft, wenn man die freie Lohnarbeit ökonomisch in eine Linie stellt mit der von Unfreien geleisteten Arbeit. Soziologisch kann man zwischen den beiden Arbeitssystemen Vergleiche ziehen. Beide sind eben gesellschaftliche Arbeitsteilung, Systeme der gesellschaftlichen Kooperation, und weisen daher in dieser Eigenschaft gemeinsame Züge auf. Doch auch die soziologische Betrachtung darf nicht außer Acht lassen, dass der ökonomische Charakter der beiden Systeme ein ganz verschiedener ist. Völlig verfehlt ist es, wenn man gar die Deutung des ökonomischen Charakters der freien Lohnarbeit durch Argumente, die man aus der Betrachtung der Sklavenarbeit herholt, zu stützen sucht. Der freie Arbeiter empfängt das als Lohn, was ökonomisch seiner Arbeit zugerechnet wird. Den gleichen Betrag legt auch der Herr aus, der Sklaven arbeiten lässt, indem er für den Unterhalt des Sklaven sorgt und dem Sklavenhändler für den Sklaven den Preis bezahlt, der dem Gegenwartswert der Beträge entspricht, um die der Lohn freier Arbeit höher ist oder höher wäre als die Unterhaltskosten der Sklaven. Der Überschuss des Arbeitslohnes über die Unterhaltskosten des Arbeiters kommt mithin demjenigen zugute, der Freie in Sklaven verwandelt, dem Sklavenjäger, nicht aber dem Sklavenhändler und nicht dem Sklavenhalter. Diese beiden beziehen in der Sklavenwirtschaft kein spezifisches Einkommen. Wer daher glaubt, die Ausbeutungstheorie durch den Hinweis auf die Verhältnisse der Sklavenwirtschaft stützen zu können, verkennt das Wesen des Problems, um das es sich handelt. In der ständisch gegliederten Gesellschaft haben alle Angehörigen der die volle Rechtsfähigkeit entbehrenden Stände ein Interesse mit ihren Standesgenossen gemein: Sie streben die Verbesserung der Rechtsstellung ihres Standes an. Alle Grundholden streben nach Erleichterung der Zinslast, alle Sklaven nach Freiheit, das heißt nach einem Zustand, der es ihnen gestatten würde, ihre Arbeitskraft für sich zu verwerten. Dieses gemeinsame Standesinteresse ist umso stärker, je weniger es dem Einzelnen möglich ist, sich selbst über die Rechtssphäre seines Standes zu erheben. Dabei ist es nicht so sehr wichtig, ob in seltenen Ausnahmefällen einzelne ganz besonders Begabte und von glücklichen Zufällen Geförderte in der Lage sind, in höhere Stände aufzusteigen. Aus unbefriedigten Wünschen und Hoffnungen einzelner entstehen keine Massenbewegungen. Es ist mehr das Interesse, die eigene Kraft aufzufrischen, als das, die soziale Unzufriedenheit zu ersticken, das die bevorrechteten Stände veranlassen muss, dem Aufstieg der Begabten kein Hindernis in den Weg zu legen. Gefährlich können die Begabten, denen man das Aufsteigen verwehrt hat, nur dann werden, wenn ihrem Aufruf zum gewaltsamen Handeln der Widerhall in breiten Schichten Unzufriedener sicher ist.
Der Ausgang aller Ständekämpfe konnte den Gegensatz der Stände nicht aufheben, solange die Idee ständischer Gliederung der Gesellschaft bestehen blieb. Auch wenn es den Unterdrückten gelungen war, das Joch, das auf ihnen lastete, abzuschütteln, waren damit noch nicht alle Standesunterschiede beseitigt. Die grundsätzliche Überwindung des Standesgegensatzes konnte erst erfolgen, als alle persönliche Unfreiheit bekämpft wurde, weil die freie Arbeit als ergiebiger als die unfreie ist, und die Freiheit der Bewegung und der Berufswahl als Grundforderungen vernünftiger Politik verkündet wurden, so wurde, soweit der Rationalismus reicht, allem Ständewesen ein Ende bereitet. Nichts charakterisiert besser das Unvermögen der Kritik, die geschichtliche Bedeutung dessen zu erfassen, als das, dass sie die Tragweite dieser Tat durch den Nachweis zu verkleinern versucht, sie sei den „Interessen“ einzelner Gruppen entsprungen.
Im Ständekampf stehen alle Angehörigen des Standes zusammen, weil sie gleiche Ziele verfolgen. Ihre Interessen mögen im Übrigen noch so weit auseinandergehen, in dem einen Punkte treffen sie sich. Sie wollen eine bessere Rechtsstellung ihres Standes erreichen. Mit der Verbesserung der Rechtsstellung sind in aller Regel auch ökonomische Vorteile verbunden, da doch ökonomische Benachteiligung der einen und Bevorzugung der anderen der Zweck der ständischen Rechtsunterschiede ist.
Bei der „Klasse“ der antagonistischen Gesellschaftstheorie liegen die Dinge völlig anders. Die Theorie des unüberbrückbaren Klassengegensatzes ist inkonsequent, wenn sie bei der Einteilung der Gesellschaft in drei oder vier große Klassen stehen bleibt. Folgerichtig durchgeführt müsste sie in der Auflösung der Gesellschaft in Interessentengruppen soweit gehen, bis sie zu den Gruppen gelangt, deren Mitglieder ganz dieselbe Funktion erfüllen. Es genügt nicht, die Besitzenden in Landeigentümer und Kapitalisten zu sondern. Man muss so lange weiter schreiten, bis man etwa zu solchen Gruppen gelangt wie: Baumwollspinner, die die gleiche Garnnummer erzeugen, oder Fabrikanten von schwarzem Chevreauleder oder Erzeuger von hellem Bier. Solche Gruppen haben gegenüber der Gesamtheit aller anderen zwar ein gemeinsames Interesse: sie sind lebhaft daran interessiert, dass der Absatz ihrer Erzeugnisse sich günstig gestalte. Doch dieses gemeinsame Interesse ist eng begrenzt. In der freien Wirtschaft kann ein einzelner Produktionszweig auf die Dauer keinen überdurchschnittlichen Gewinn erzielen und andererseits auf die Dauer auch nicht mit Verlust arbeiten. Das gemeinsame Interesse der Branchenmitglieder erstreckt sich mithin nur auf die Gestaltung der Konjunktur in einer begrenzten Spanne Zeit. Im Übrigen herrscht zwischen ihnen Wettbewerb, nicht unmittelbare Interessensolidarität. Die Konkurrenz, die zwischen den Mitgliedern eines und desselben Produktionszweiges besteht, wird durch Hervortreten gemeinsamer Sonderinteressen nur dort wirksam verdrängt, wo in irgendeiner Weise die Freiheit der Wirtschaft beschränkt ist. Doch wenn das Schema seine Brauchbarkeit für die Kritik der Lehre von der Solidarität der besonderen Klasseninteressen bewähren soll, dann müsste man den Beweis für die Verhältnisse einer freien Verkehrswirtschaft führen. Es ist kein Beweis für die Richtigkeit der Klassenkampftheorie, wenn man etwa auf die Gemeinsamkeit der Interessen der Grundbesitzer gegenüber denen der städtischen Bevölkerung in der Zollpolitik oder auf den Gegensatz von Grundbesitzern und Bürgern in der Frage der politischen Herrschaft hinweist. Dass alle staatlichen Eingriffe in die Freiheit des Verkehrs Sonderinteressen schaffen, leugnet auch unsere Lehre nicht. Sie leugnet auch durchaus nicht, dass einzelne Gruppen auf diese Weise für sich Sondervorteile herauszuschlagen vermögen. Was sie sagt, ist lediglich das, dass solche Sonderbegünstigungen, wenn sie als Ausnahmeprivilegien kleiner Gruppen auftreten, zu heftigen politischen Kämpfen, zu Rebellionen der nicht privilegierten Vielen gegen die privilegierten Wenigen führen, die durch dauernde Störung des Friedens die ganze gesellschaftliche Entwicklung stören, wenn sie aber zur allgemeinen Regel erhoben werden, alle schädigen, indem sie auf der einen Seite nehmen, was sie auf der anderen geben, und als bleibendes Ergebnis nur eine allgemeine Verminderung der Produktivität der Arbeit zurücklassen.
Die Interessengemeinschaft der Gruppenmitglieder und ihr Interessengegensatz zu den anderen Gruppen sind immer nur das Ergebnis von Beschränkungen des Eigentumsrechtes, der Freiheit des Verkehrs und der Berufswahl, oder sie entspringen der Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit von Interessen in einer kurzen Übergangszeit.
Wenn aber zwischen den Gruppen, deren Glieder in der Volkswirtschaft die gleiche Stellung einnehmen, keine besondere Interessengemeinschaft besteht, die sie in Gegensatz zu allen anderen Gruppen setzen würde, so kann auch keine bestehen innerhalb größerer Gruppen, deren Glieder nicht die gleiche, sondern bloß eine ähnliche Stellung einnehmen. Wenn zwischen den Baumwollspinnern untereinander keine Gemeinschaft von Sonderinteressen besteht, dann besteht sie auch nicht zwischen den baumwollverarbeitenden Gewerben überhaupt oder zwischen den Spinnern und den Maschinenfabrikanten. Zwischen Spinner und Weber und zwischen Maschinenbauer und Maschinenbenützer ist der unmittelbare Interessengegensatz so ausgeprägt als er nur sein kann. Nur dort besteht Gemeinschaft der Gruppeninteressen, wo die freie Konkurrenz ausgeschaltet ist, also etwa zwischen den Besitzern von Boden bestimmter Qualität oder Lage.
Die Lehre von der Trennung der Bevölkerung in drei oder vier große Interessentengruppen geht schon darin fehl, dass sie die Eigentümer des Bodens als eine Klasse von einheitlichen Interessenten ansieht. Das trifft durchaus nicht zu. Die Besitzer von Ackerland, von Waldgütern, von Weinbergen, von Bergwerken oder von städtischen Grundstücken verbindet kein besonderes gemeinsames Interesse, es sei denn das eine, das sie für die Beibehaltung des Privateigentums an Grund und Boden eintreten. Doch das ist kein Sonderinteresse der Besitzenden. Wer die Bedeutung des Privateigentums an den Produktionsmitteln für die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit erkannt hat, muss als Mann ohne Halm und Ar und ohne sonstigen Besitz geradeso im eigenen Interesse dafür eintreten wie der Besitzende. Echte Sonderinteressen haben die Grundbesitzer immer nur in Bezug auf die die Freiheit des Eigentums und des Verkehrs beschränkenden Einrichtungen.
Der Wettbewerb innerhalb der Klasse kommt aber auch darin zum Ausdrucke, dass die Arbeiter sich gegenseitig die gehobene Arbeiterstellung und den Aufstieg in höhere Schichten streitig machen. Den Angehörigen der anderen Klassen mag es gleichgültig sein, wer die Meisterstellung in der Arbeiterschaft einnimmt und wer zu den verhältnismäßig Wenigen gehört, die aus niederen Schichten in die höheren aufsteigen, sofern es nur die Tüchtigsten sind. Doch für die Arbeiter ist es eine hochwichtige Sache. Hier ist jeder der Konkurrent des anderen. Freilich ist - das ergibt sich aus der gesellschaftlichen Solidarität - jeder daran interessiert, dass alle übrigen Vorarbeiterstellen mit den Besten und Geeignetsten besetzt werden. Doch daran, dass die eine Stelle, für die er in Betracht käme, ihm zufalle, auch wenn nicht er dazu der Geeignetste sein sollte, ist jeder interessiert, da der Vorteil, der ihm dabei winkt, größer ist als der Bruchteil des allgemeinen Nachteiles, der auf ihn zurückfällt.
Lässt man die Theorie von der Solidarität der Interessen aller Glieder der Gesellschaft, die einzig mögliche Gesellschaftstheorie, die einzige, die zeigt, wie Gesellschaft möglich ist, fallen, dann löst man die gesellschaftliche Einheit nicht etwa in Klassen auf, sondern in Individuen, die einander als Gegner gegenüberstehen. Der Gegensatz der Einzelinteressen wird in der Gesellschaft überwunden, doch nicht in der Klasse. Die Gesellschaft kennt keine anderen Teile als die Individuen. Die durch Gemeinschaft von Sonderinteressen geeinte Klasse gibt es nicht; sie ist eine Erfindung einer nicht genügend durchdachten Theorie. Je komplizierter die Gesellschaft ist, je weiter in ihr die Differenzierung vorgeschritten ist, desto mehr Gruppen gleichartig in den gesellschaftlichen Organismus gestellter Personen gibt es, wenn auch naturgemäß im allgemeinen - das heißt im Durchschnitt - die Zahl der Angehörigen einer Gruppe mit der Zunahme der Zahl der Gruppen abnimmt. Dass gewisse unmittelbare Interessen der Angehörigen einer jeden Gruppe gleichartig sind, schafft zwischen ihnen noch nicht eine allgemeine Gleichheit der Interessen. Durch die Gleichartigkeit der Stellung werden sie Konkurrenten, nicht Gleichstrebende. Ebenso wenig kann durch nicht vollständige Gleichartigkeit der Stellung verwandter Gruppen Interessengemeinschaft schlechthin entstehen; gerade soweit die Gleichartigkeit der Gruppenstellung reicht, wird sie Wettbewerb zwischen ihnen spielen lassen.
Es ist mit der Klassenideologie nicht anders als mit der nationalen. Auch zwischen den Interessen der einzelnen Völker und Stämme bestehen keine Gegensätze. Erst die nationalistische Ideologie erzeugt den Glauben an sie und schließt die Völker zu Sondergruppen zusammen, die sich gegenseitig bekämpfen. Die nationalistische Ideologie zerreißt die Gesellschaft in vertikaler, die sozialistische in horizontaler Richtung. Die beiden schließen sich gegenseitig aus. Bald hat die eine, bald die andere die Oberhand. 1914 hat in Deutschland die nationalistische Ideologie die sozialistische in den Hintergrund gedrängt. Da gab es auf einmal eine nationalistische Einheitsfront. 1918 wieder siegte die sozialistische Ideologie über die nationalistische, 1933 … usw.
In unserer freien Gesellschaft gibt es keine Klassen, die durch unüberbrückbare Interessengegensätze geschieden sind. Gesellschaft ist Solidarität der Interessen. Der Zusammenschluss von Sondergruppen hat immer nur den Zweck, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sprengen. Sein Ziel und sein Wesen sind asozial. Die besondere Gemeinsamkeit der Interessen der Proletarier reicht nur so weit, als sie alle ein Ziel verfolgen: die Gesellschaft zu sprengen; und nicht anders ist es mit der besonderen Gemeinsamkeit der Interessen der Angehörigen eines Volkes.
Der Umstand, dass die marxistische Theorie den Begriff der Klasse nicht näher umschrieben hat, hat es ermöglicht, dass er in den verschiedensten Auffassungen verwendet wird. Wenn man einmal den Gegensatz von Besitzenden und Nichtbesitzenden, dann wieder von den Stadt- und Landinteressen, dann wieder den von Bürgern, Bauern und Arbeitern als den ausschlaggebenden hinstellt, wenn man von den Interessen des Rüstungskapitals, des Alkoholkapitals, des Finanzkapitals – wie gerade jetzt bei Attac u.a. - spricht, wenn man einmal von der goldenen Internationale spricht, dann aber wieder den Imperialismus aus den Gegensätzen des Kapitals heraus erklärt, so sieht man gleich, dass es sich nur um Schlagwörter für den Gebrauch des Demagogen handelt, nicht aber um Ausführungen irgendwelcher soziologischer Erkenntnis. Der Marxismus hat sich im wichtigsten Punkte seiner Lehre über das Niveau einer Parteidoktrin für die Gasse nie erhoben. Immer wieder kehrt die Erörterung zu demselben Punkte zurück; die Grundfrage ist stets nur die, ob die sozialistische Gesellschaftsordnung höhere Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit verspricht als die kapitalistische? Das mag dann jeder für sich beantworten.
Rasse, Nationalität, Staatszugehörigkeit, Standesrecht sind im Leben direkt wirksam. Es kommt nicht darauf an, ob eine Parteiideologie alle Angehörigen derselben Rasse oder Nation, desselben Staats oder Standes zu gemeinsamem Handeln zusammenfasst oder nicht. Die Tatsache, dass es Rassen, Nationen, Staaten und Stände gibt, bestimmt das menschliche Handeln auch dann, wenn keine Ideologie die Menschen veranlasst, sich durch die Zugehörigkeit zu einer derartigen Gruppe in ihrem Handeln in einem bestimmten Sinne leiten zu lassen. Des Deutschen Denken und Handeln ist durch die Geistesbildung, die er mit dem Eintritt in die deutsche Sprachgemeinschaft übernommen hat, beeinflusst; ob er unter der Einwirkung einer nationalistischen Parteiideologie steht oder davon frei ist, ist dabei ganz gleichgültig. Er denkt und handelt als Deutscher anders als der Grieche, dessen Denken durch die Geschichte der griechischen Sprache und nicht durch die der deutschen bestimmt ist.
Die Parteiideologie des Nationalismus ist ein von der Tatsache der Zugehörigkeit zu einer Nation ganz unabhängiger Faktor. Es können verschiedene einander widersprechende nationalistische Parteiideologien nebeneinander bestehen und um die Seele des einzelnen kämpfen; es kann aber auch jede Art nationalistischer Parteiideologie fehlen. Die Parteiideologie ist immer etwas, was zu der Gegebenheit des Zugehörens zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe noch besonders hinzutritt und dann eine besondere Quelle des Handelns bildet. Das gesellschaftliche Sein erzeugt keine adäquate Parteidoktrin in den Köpfen. Die Parteistellung entspringt stets einer Theorie über das, was frommt und nicht frommt. Das gesellschaftliche Sein mag unter Umständen zur Annahme einer bestimmten Ideologie prädisponieren (vorausplanen); die Parteidoktrinen werden mitunter schon so gestaltet, dass sie den Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe besonders anziehend erscheinen. Doch die Ideologie ist stets von der Gegebenheit des gesellschaftlichen und des natürlichen Seins zu unterscheiden.
Das gesellschaftliche Sein selbst ist ein ideologisches Moment, insofern Gesellschaft ein Produkt menschlichen Wollens und daher auch menschlichen Denkens ist. Die materialistische Geschichtsauffassung ruft heillose Begriffsverwirrung hervor, wenn sie das gesellschaftliche Sein als vom Denken unabhängig ansieht.
Bezeichnet man die Stellung, die dem einzelnen Menschen im Kooperationsorganismus der Wirtschaft zukommt, als seine Klassenlage, dann gilt das oben Gesagte auch von der Klasse. Dann muss man auch hier zwischen den Einflüssen unterscheiden, denen der einzelne durch seine Klassenlage ausgesetzt ist, und zwischen den parteipolitischen Ideologien, die auf ihn einwirken. Der Bankangestellte steht unter dem Einflusse der Tatsache, dass er gerade diese Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Ob er daraus den Schluss zieht, dass er für kapitalistische oder für sozialistische Politik eintreten müsse, hängt von den Ideen ab, die ihn beherrschen.
Fasst man aber den Begriff der Klasse in dem marxistischen Sinne einer Dreiteilung der Gesellschaft in Kapitalisten, Grundherren und Arbeiter auf, dann verliert er jede Bestimmtheit. Dann ist er nichts als eine Fiktion, die der Begründung einer konkreten parteipolitischen Ideologie dienen soll. So sind die Begriffe Bourgeoisie, Arbeiterklasse, Proletariat Fiktionen, deren Brauchbarkeit für die Erkenntnis von der Theorie, in der sie Verwendung finden, abhängt. Diese Theorie ist die marxistische Lehre von der Unüberbrückbarkeit der Klassengegensätze. Wenn man diese Theorie nicht als brauchbar ansieht, dann bestehen keine Klassen-unterschiede und keine Klassengegensätze im marxistischen Sinne. Ist nachgewiesen, dass zwischen den richtig verstandenen Interessen aller Glieder der Gesellschaft letztlich kein Gegensatz besteht, dann ist damit nicht nur klargestellt, dass die marxistische Auffassung von der Gegensätzlichkeit der Interessen nicht zu halten ist; auch der Begriff der Klasse, in dem Sinne, wie ihn die sozialistische Lehre verwendet, ist dann als wertlos abgetan. Denn nur im Rahmen dieser Theorie hat die Zusammenfassung der Kapitalisten, der Grundbesitzer, der Arbeiter zu gedanklichen Einheiten einen Sinn. Außerhalb dieser Theorie ist die Zusammenfassung ebenso zwecklos wie es etwa die Zusammenfassung aller blonden oder brünetten Frauen zu einer Einheit ist, wenn man nicht - wie etwa bestimmte Rassentheorien - der Haarfarbe, sei es als äußeres Merkmal, sei es als konstitutives (bestimmendes) Moment, eine besondere Bedeutung beizulegen weiß.
Durch die Stellung, die der einzelne im arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktionsprozess einnimmt, werden seine ganze Lebensführung, sein Denken und seine Einstellung zur Welt in entscheidender Weise beeinflusst. Das gilt in mancher Hinsicht auch von der Verschiedenheit der Stellung, die dem einzelnen in der Ausführung der Produktion zukommt. Unternehmer und Arbeiter denken anders, weil die Gewohnheit der täglichen Arbeit den Blick anders einstellt. Der Unternehmer sieht immer das Große und Ganze, der Arbeiter nur das Nächste und Kleine. Jener wird großzügig, dieser bleibt am Kleinen haften. Das sind gewiss Dinge, die von großer Wichtigkeit für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Doch damit ist noch nicht gesagt, dass es darum schon zweckmäßig wäre, den Begriff der Klasse in dem Sinne, in dem ihn die sozialistische Theorie verwendet, einzuführen. Denn diese Unterscheidungsmerkmale haften nicht an und für sich schon an der Verschiedenheit der Stellung im Produktionsprozess. Der kleine Unternehmer steht in seinem Denken dem Arbeiter näher als dem großen Unternehmer, der leitende Angestellte großer Unternehmungen ist wieder dem Unternehmer enger verwandt als dem Arbeiter. In vieler Hinsicht ist die Unterscheidung von arm und reich für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zustände, die wir hier im Auge haben, wichtiger als die von Unternehmer und Arbeiter. Die Lebenshaltung und Lebensführung wird mehr durch die Höhe des Einkommens bestimmt als durch die Stellung zu den Produktionsfaktoren; diese kommt dafür nur soweit in Betracht, als sie sich in der Abstufung der Höhe des Einkommens ausdrückt.
Feuerbach hatte verkündet: „das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken“. Was hier nur die Abkehr vom Idealismus der Hegelschen Richtung ausdrücken sollte, wird in dem berühmt gewordenen Ausspruch: „Der Mensch ist, was er isst“ zum Losungswort des Materialismus. Vogt gibt der materialistischen These die schärfste Prägung, indem er den Satz verteidigt, „dass die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren!“. Derselbe naive Materialismus, der ohne Ahnung von der Schwierigkeit der Probleme die philosophische Grundfrage durch Zurückführung alles Geistigen auf Körperliches einfach und vollständig zu lösen vermeint, tritt auch in der ökonomischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels zutage. Die Bezeichnung materialistische Geschichtsauffassung, die sie trägt, entspricht ihrem Wesen, als er ihre und des zeitgenössischen Materialismus erkenntnistheoretische Gleichartigkeit treffend und im Sinne ihrer Begründer hervorhebt.
Die Ideen des modernen Sozialismus sind nicht Proletarierköpfen entsprungen; sie haben Intellektuelle, Söhne der Bourgeoisie, nicht Lohnarbeiter zu ihren Urhebern. Der Sozialismus hat nicht nur die Arbeiterschaft ergriffen; er zählt offen und versteckt auch unter den Besitzenden Anhänger.
Das theoretische Denken ist von den Wünschen, die der Denker liegt, und von den Zielen, denen er zustrebt, unabhängig. Diese Unabhängigkeit qualifiziert es erst als Denken. Wünsche und Zielsetzungen regeln das Handeln, nicht das reine Denken. Wenn man meint, die Wirtschaft beeinflusse das Denken, so kehrt man den
Sachverhalt gerade um. Die Wirtschaft als rationales Handeln ist vom Denken, nicht das Denken von der Wirtschaft abhängig.
Selbst wenn man zugeben wollte, dass das Klasseninteresse dem Denken den Weg weise, so könnte dies doch wohl nur so verstanden werden, dass das erkannte Klasseninteresse dabei in Frage kommt. Die Erkenntnis des Klasseninteresses aber ist bereits ein Erzeugnis des Denkprozesses. Ob dieser Denkprozess ergibt, dass besondere Klasseninteressen bestehen oder dass die Interessen aller Klassen in der Gesellschaft letzten Endes harmonieren, liegt mithin jedenfalls vor dem klassenmäßig determinierten Denken.
Unsere Zeit hält es freilich für selbstverständlich, dass der Arbeiter sozialistisch denken und handeln müsse. Doch zu dieser Auffassung gelangt sie nur auf die Weise, dass sie annimmt, die sozialistische Gesellschaftsordnung sei entweder die den Interessen des Proletariates am besten entsprechende Gestalt des menschlichen Zusammenlebens oder es scheine zumindest dem Proletariate, dass sie es sei. Was von jenem zu halten sei, ist schon genügend erörtert worden. Dann bleibt also, angesichts der nicht zu bezweifelnden Tatsache, dass der Sozialismus, mag er auch in anderen Schichten zahlreiche Anhänger zählen, vor allem unter den Arbeitern verbreitet ist, die Frage zu erörtern, warum der Arbeiter vermöge der Besonderheit der Stellung, die er im gesellschaftlichen Arbeitsprozess einnimmt, zu Auffassungen neigt, die ihn für die sozialistische Ideologie empfänglich machen.
Die demagogische Liebedienerei der sozialdemokratischen Parteien preist den Arbeiternehmer und die Arbeitnehmerin des modernen Kapitalismus als ein Wesen, das durch alle Vorzüge des Geistes und des Charakters ausgezeichnet ist. Eine nüchterne und weniger voreingenommene Betrachtung wird vielleicht zu ganz anderen Ergebnissen gelangen. Doch man mag Untersuchungen dieser Art ruhig den Parteiliteraten der verschiedenen Richtungen überlassen. Für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zustände im Allgemeinen und der Soziologie des Parteiwesens im Besonderen sind sie ganz wertlos. Die Frage ist hier allein die, wieso dem Arbeiternehmer und der Arbeitnehmerin die Stellung, die sie im Produktionsprozess einnehmen, leicht zu der Auffassung führen kann, dass die sog. soziale Produktionsweise nicht nur überhaupt möglich, sondern sogar rationeller sei als die kapitalistische.
Die Antwort darauf kann nicht schwer fallen. Der Arbeiternehmer und die Arbeitnehmerin des kapitalistischen Groß- und Mittelbetriebes sehen und weiß gar nichts vom geistigen Band, das die einzelnen Teile der Arbeit zu dem sinnvollen Ganzen der Wirtschaft verbindet. Ihr Gesichtskreis als Arbeiternehmer und Arbeitnehmerin und Produzent und Produzentin reicht nicht über den Teilprozess, die ihnen obliegen hinaus. Sie halten sich allein für ein produktives Glied der menschlichen Gesellschaft und sehen in jedem, der nicht gleich ihm an der Maschine steht oder Lasten schleppt, nicht nur im Unternehmer, sondern auch im Ingenieur und im Werkmeister einen Parasiten. Selbst der Bankangestellte glaubt, dass er allein im Bankbetriebe produktiv tätig sei und den Gewinn des Unternehmens erarbeite, und dass der Direktor, der die Geschäfte abschließt, nur ein überflüssiger Faulenzer sei, den man ohne Schaden durch einen beliebigen Menschen ersetzen könnte. Die Erkenntnis des wahren Zusammenhanges der Dinge kann dem Arbeiternehmer und der Arbeitnehmerin aus ihrer Stellung unmöglich kommen. Sie könnten sie allenfalls durch Nachdenken mit Hilfe von Büchern erlangen, niemals aber können sie sie aus dem, was ihnen ihre eigene Tätigkeit an Tatsachenmaterial zuführt, erschließen. So wenig der Durchschnittsmensch aus dem, was ihm die tägliche Erfahrung zuführt, zu einer anderen Auffassung gelangen kann als zu der, dass die Erde still steht und dass die Sonne täglich im Bogen von Ost nach West zieht, so wenig kann der Arbeiternehmer und die Arbeitnehmerin aus ihrer eigenen Erfahrung heraus zur Erkenntnis des Wesens und des Getriebes der Wirtschaft gelangen. Der Sozialismus ist der der Arbeiterseele entsprechende Ausdruck des Gewaltprinzips wie der Imperialismus der der Soldaten- und Beamtenseele entsprechende ist.
Nicht, weil es ihren Interessen tatsächlich entspricht, sondern weil sie glauben, dass es ihren Interessen entspricht, neigen die Massen immer noch zum Sozialismus.
Mit dem hier gesagten haben wir dann zusammen genommen den schönsten Plott für die gerade ablaufende Situation. Die Regierungen (jeweilige Koalitionen) schaffen den Sozialismus auf Pump mit EURO, DOLLAR usw. und die anderen denken, es muss immer so schön weitergehen. Und plötzlich sind alle verwundert wenn das Märchenland in Gefahr ist.

Für heute war es das!


Macht`s gut Nachbarn!