Sonntag, 14. Juni 2009

RELIGIÖSE URSPRÜNGE

"Unser Herz schlägt hier"
 
Geheime Tunnel, meterdicke Mauern, 3000 Jahre alte Siegel: Archäologen suchen nach dem Ursprung Jerusalems und wollen König Davids Palast entdeckt haben - aber unter einem arabischen Viertel.
 
Das Rauchen hat sich Jawad Siyam angewöhnt, als die Israelis ihn mal wieder eingesperrt hatten. Er war so oft im Gefängnis, dass er nicht mehr genau weiß, wann. Siyam steckt sich eine Gauloises an, schiebt die Sonnenbrille wie immer ins Stoppelhaar und blinzelt ins gleißende Mittagslicht.
 
Der Palästinenser schaut die Straße hoch, auf Jerusalems Tempelberg, rund 300 Meter weit weg von seinem eigenen Haus. Er schaut die Straße hinunter, dort haben Archäologen Gruben zwischen die Grundstücke der Palästinenser gegraben. Israelische Flaggen wehen über Gittern, auf Hausdächern patrouillieren Männer mit Gewehren. Sie würden auf ihn schießen, wenn er einen Fehler macht. Siyam macht aber keine Fehler, nicht mehr: "Wir wollen keine Gewalt", sagt er, doch "dieses Land hier ist uns heilig."
 
Keine hundert Meter weiter blickt etwas später Doron Spielman durch ein Stahlgitter, das seine Arbeiter über uralten Mauern errichtet haben. Man kennt das Gesicht des Israelis weltweit aus den Fernsehnachrichten: Jüngst beim Feldzug gegen Gaza redete Captain Doron Spielman meist vor der brennenden Palästinenserstadt. Als Armeesprecher versuchte er, der Welt zu erklären, warum Israel schießen müsse.
 
Spielman wirkt gut im Fernsehen, entschlossen, smart, ziemlich amerikanisch. Er spricht Englisch mit dem Sound des Mittleren Westens, er stammt aus Detroit, zum Israeli wurde er erst vor wenigen Jahren. Für Israel kämpfen, das ist seither sein Leben, egal an welcher Front.
 
"Dies hier ist der Ort, an dem alles begann", sagt Spielman, er meint die Ruinen unter seinen Füßen. Wohin auch immer es Juden verschlage - "unser Herz schlägt hier". Wenn ihn die Armee nicht braucht, befehligt er als Direktor einer Organisation namens "Ir David" eine Schar von Arbeitern und Archäologen.
 
Was sie ausgraben, glauben manche, soll der Palast des ersten jüdischen Königs David sein, 3000 Jahre alt. Gesucht wird also Davids Stadt: "Ir David" eben - das erste Jerusalem, älter noch als die sogenannte Altstadt.
 
Siyam, der Palästinenser, und Spielman, der Israeli, reden nicht miteinander. Sie kennen sich aber, sie beobachten sich. Denn auch wenn nicht geschossen wird, kämpfen diese beiden Männer - einen Kampf, der vor 3000 Jahren begann.
 
Es geht nicht nur um die Anfänge der Heiligen Stadt dreier Religionen. Es geht um die jüdische Identität und Beweise, die Archäologen herbeischaffen sollen. Es geht um die Macht in Jerusalem, in Israel, um einen eigenen Palästinenserstaat und um die Weltpolitik. Deshalb streitet die neue amerikanische Außenministerin Hillary Clinton mit der neuen israelischen Regierung um genau die Häuser, für die Jawad Siyam kämpft. Und auch die Europäische Union warnte vor wenigen Wochen, was da passiere, sei eine "akute Gefahr" für den Friedensprozess.
 
Denn Spielman und seine Archäologen wollen das Jerusalem des Alten Testaments ausgerechnet unter dem Stadtteil Silwan entdeckt haben - im palästinensischen Osten der Stadt. Silwan soll irgendwann Teil der Hauptstadt Palästinas werden, so ergibt es sich aus vielen Papieren, die nach internationalen Verhandlungen verfasst wurden.
 
Aber jetzt vertreiben konservative Israelis die Palästinenser, eine Familie nach der anderen. Wohnhäuser werden abgerissen, durchs Viertel auf dem Hügel neben dem Tempelberg wühlen sich Archäologen. Geplant ist ein Bibel-Disneyland für 100 Millionen Dollar - Israel wird Davids Stadt nie wieder hergeben, die Palästinenser werden nie auf Silwan verzichten. Und so verhindert der König von damals den Frieden von morgen.
 
Denn die Zeit vergeht nicht in Jerusalem, nicht so wie an anderen Orten. Alles ist Gegenwart. Was vor Jahrtausenden passierte genauso wie das, was vor Jahrzehnten geschah. Nichts wird vergeben, schon gar nichts vergessen. Die Menschen von heute verstricken sich heillos in den Kämpfen ihrer Vorfahren.
 
Das jüngste Gefecht begann 1993. Bis dahin galt König David als mythische Gestalt. Er war der Hirtenjunge, der nach der Zeitrechnung der Bibel um 1000 v. Chr. den Riesen Goliath tötete, er war der Diplomat und der Trickser, der mit Ränkespielen herumziehende Stämme zu einem Volk einte. Er war aber auch der König, der Psalmen dichtete, und der Krieger, der dem neuen Volk eine Hauptstadt eroberte: Jerusalem. "Jeder kleine Junge in Israel will König David sein", sagt Spielman.

Doch lebte David einst tatsächlich, liegt hinter der Legende eine Wahrheit? Über tausendmal erwähnt die Bibel David, aber ansonsten gab es kein Indiz - bis Archäologen 1993 im Norden Israels eine Steintafel fanden mit zwei Inschriften. Eine erwähnt das "Haus Davids", und in der zweiten stehen die Wörter "König von Israel".
 
Jahrzehnte zuvor hatten Kollegen direkt südlich der heutigen Altstadt Jerusalems gewaltige Fundamente ausgegraben, unter ihnen lagen Eingänge zu Tunneln. Die Mauern gehörten wohl zu einer befestigten Stadt. Vielleicht 4000 Jebusiter lebten vor 3000 Jahren auf diesem Hügel, sie nannten ihre Burg "Zion".
 
David fand laut Bibel die Schwachstelle dieser Bergfestung, den "Tsinnor", einen geheimen Tunnel, durch den die Jebusiter bei einer Belagerung Wasser aus einer Quelle im Kidron-Tal holen konnten. Ein Stoßtrupp kletterte durch den Tunnel in die Stadt, Zion fiel - und Jerusalem war geboren. David begann sofort, die Stadt zu erweitern; als Erstes ließ er sich einen Palast bauen.

Wenn David tatsächlich gelebt hat und wenn diese Trümmer auf dem Hügel einst Zion waren, dann müsste sich die Spur des Königs dort finden lassen, dachte sich die Archäologin Eilat Mazar.
 
Sie war schon aufgewachsen mit Schaufeln, dem Staub der Grabungsstätten und der Bibel. Ihr Großvater galt als führender Archäologe des jungen Staates Israel. Eilat Mazar ist jetzt eine starke blonde Frau, ihre vier Kinder zieht sie allein groß, sie hat keine Zeit für Zweifel. Und sie glaubt an die Schrift: "Ich arbeite mit der Bibel in der einen Hand und den Werkzeugen in der anderen Hand."
 
1997 las sie im Buch Samuel über den Angriff der Philister auf die Stadt Davids. Und diesmal fiel Mazar ein Nebensatz auf: Direkt vor der Attacke sei David "herabgestiegen" in die Festung. "Herabgestiegen von wo?", fragte sich Mazar - der König könne ja wohl nur aus seinem Palast gekommen sein, der müsse also etwas höher gestanden haben.
 
1997 veröffentlichte sie ihre Theorie im Fachblatt "Biblical Archaeology Review", illustriert mit einem Plan der Jebusiter-Festung. In die Grafik zeichnete sie einen Pfeil, er zeigte auf einen Punkt südlich des heutigen Tempelbergs. Darunter stand: "Dort muss er sein."
 
Archäologie ist ein langwieriges Geschäft, aber 2005 konnte Mazar anfangen zu graben. Innerhalb von Monaten stieß sie auf Mauern eines gewaltigen Gebäudes, bis zu fünf Meter dick, sie fand Keramiken, Tunnel, Tonsiegel mit den Namen von Ministern, die in der Bibel stehen.
 
Archäologen nummerieren ihre Funde und die Fundstellen. Ein Kernstück von Mazars Theorie, dass vor 3000 Jahren hier der Mensch David lebte, ist "Locus 47", eine winzige Mauerlücke, man könnte sie mit einem Küchenhandtuch abdecken. Heute liegt auf Locus 47 ein zerdrückter Plastikbecher, Kraut wächst aus Steinritzen. Aber mit Hilfe von Tonscherben, die Mazar dort fand, und aufgrund der Bauweise glaubt sie, könne sie die Ruinen präzise datieren - auf das Jahr 1000 vor Christus. Dies sei eine erste Ecke von Davids Palast.
 
Andere Archäologen bezweifeln die Datierung, aber es gibt größere Probleme: Mazar und nach ihr Kollegen konnten bislang nur einen kleinen Teil der Stadt ausgraben. Denn schon König Davids Sohn Salomo verlegte das Zentrum auf den nächsten Hügel im Norden. Später brannten die Babylonier die Davidstadt nieder.
 
Mazar fand in einem verschütteten Tunnel intakte Öllampen, die vielleicht die letzten Juden des alten Jerusalem trugen, als sie versuchten, vor den Feinden zu fliehen. "Dort endete das Leben", sagt Spielman.
 
Jahrhundertelang lag der Hügel verlassen da, ein Müllabladeplatz, ein Olivenhain, eine Ziegenweide. Dann bauten Araber auf den Ruinen; ihr Stadtteil wuchs in die Täler rundum, sie nannten ihn Silwan. Heute leben dort vielleicht 50.000 Palästinenser. Und das alte Jerusalem liegt unter ihren Häusern. Wer es ausgraben will, muss die Menschen vertreiben. Das zweite Problem: Die israelische Altertumsbehörde kann die Arbeiten nicht bezahlen. Geld hat aber eine jüdische Siedlerorganisation namens Elad, sie steht hinter Spielmans Projekt Davidstadt. Die rechtsnationale Gruppe bezahlt die Archäologen der Behörde. Woher die Millionen stammen, verrät Spielman nicht. Aber Ehrengast bei der Einweihung des neuen Besucherzentrums war der russisch-jüdische Oligarch Roman Abramowitsch.
 
Spielmans Leute dringen immer weiter vor. Manche Häuser kaufen sie den Palästinensern ab, andere werden enteignet. Es gibt praktische Gesetze in Israel für so etwas, zum Beispiel jenes, nach dem Palästinenser enteignet werden können, wenn sie längere Zeit nicht da sind. Zudem bauten viele ihre Häuser formal illegal, weil Araber in Jerusalem so gut wie nie eine Baugenehmigung bekommen.

Die Stadt, der Staat und Elad arbeiten Hand in Hand, den Namen "Silwan" haben sie den Palästinensern schon genommen. Der Stadtteil heißt jetzt "Ir David", die Hauptstraße Wadi Hilwah Straße heißt "Ir David Aufstieg".
 
Auf jedem leeren Grundstück fangen sie an zu graben, in manche Häuser ziehen Elad-treue Siedler. Sie setzen Funkantennen auf die Dächer, falls Terroristen die Telefonleitungen zerschneiden, sie schrauben Kameras an Laternenpfähle. Sie tragen Sturmgewehre beim Sabbat-Spaziergang, und Gitter über Dach und Scheiben schützen ihre Geländewagen, wie Schildkröten sehen die klobigen Autos aus.
 
 
 
Es geht Spielman darum, zu zeigen, dass dies schon immer jüdisches Land war, dass nach David nichts kam, zumindest nichts, was eine Schaufel nicht schnell beiseiteschieben kann. Seine Archäologen haben kein einziges muslimisches Gebäude gesichert, sogar einen jahrhundertealten Friedhof baggerten sie mitsamt den Knochen einfach weg.
 
"Wir waren eine Nation ohne Ort. Wir haben auch heute kein Mekka oder Medina", sagt Spielman, "wir haben nur dieses kleine Stück Erde, Israel. Es ist eine fragile Existenz." Deshalb gehe es darum, so tief wie möglich zu wurzeln, am besten so tief, wie Wurzeln in 3000 Jahren wachsen können.
 
"Sie nutzen die Archäologie als Werkzeug für ihre Pläne", sagt der Archäologe Yoni Mizrachi. "Archäologen sollen eigentlich nach den Spuren alter Kulturen suchen. Sie aber suchen nach Belegen, dass ihnen das Land gehört."
 
Mizrachi trägt seine Haare im Pferdeschwanz, das erste Grau ist zu sehen, er kennt seine Gegner seit langem. Der Israeli hat schon mit Eilat Mazar zusammengearbeitet, "sie ist gut", sagt er, "aber sie folgt ihrer Agenda: Sie will die Bibel beweisen."
 
Er selbst hat lange für die Altertumsbehörde gegraben, auch auf Palästinenserland; Bodyguards mussten ihn schützen. "Als Archäologe änderst du nicht nur, was die Menschen sehen, sondern vor allem, wie sie es sehen. Das ist eine enorme Macht." Und oft werde sie missbraucht.
 
Deshalb hat Mizrachi seinen Job hingeworfen: "Man trifft seine Entscheidungen, und so ist das Leben dann." Er schreibt jetzt Essays, oder er führt Touristen durch die Ruinen der Davidstadt. Er sagt ihnen, welcher Stein welche Geschichte erzählt. Er sagt ihnen aber auch, wo die historische Wahrheit endet und die politische Fiktion beginnt. 1500 Menschen kamen im vergangenen Jahr mit Mizrachi und ein paar Kollegen, 500.000 aber ließen sich von Spielmans Führern die David-Theorie als Wahrheit verkaufen.
 
Ohne seinen Freund Jawad Siyam hätte Mizrachi wohl keine Chance. Siyam lebt ein kompliziertes Leben. Seine Frau ist eine christliche Serbin aus Bosnien mit deutschem Pass. Er selbst entstammt einem der großen Araber-Clans, doch studiert hat er unter anderem in Berlin. Er spricht fünf Sprachen, er hat seine Doktorarbeit (Amerikanistik) schon im Kopf. Aber er hat keinen Pass, sondern nur eine Karte, die ihn als Bewohner Jerusalems dritter Klasse ausweist: Er darf Steuern zahlen, wählen darf er nicht, und die Stadt lässt sein Viertel verfallen.
 
Siyam organisiert den Widerstand, er hat lange gelernt dafür. Als Jugendlicher warf er bei der Intifada Steine, dann bekämpfte er den Imperialismus, wie er sagt, als Mitglied der Fatah.
 
Er wirft keine Steine mehr, er hat jetzt Anwälte. Er hält Vorträge über den illegalen Vormarsch der Israelis, er gibt der "Washington Post" Interviews zur Nahost-Politik, er redet mit Reisegruppen. Siyam will, dass es Zeugen gibt. Und manche Israelis wünschen sich, er würde wieder Steine werfen, das wäre leichter.
 
Siyam hat mit Israelis und Palästinensern zusammen einen Verein gegründet, sie haben ein Haus gemietet. Moniereisen ragen in den Himmel, Geckos huschen über raue Wände, aber hier bringen Lehrer den Frauen Hebräisch bei, damit sie sich im Alltag besser zurechtfinden; sie machen eine Zeitung, Web-Seiten, und manchmal kommt ein Zirkus. "Wir wollen dem Leben in Silwan eine Bedeutung geben. Dies ist nicht eine Müllhalde, die man einfach abräumen kann."
 
Die Palästinenser kämpfen um jedes Haus, jeden Quadratmeter. Keine Familie soll freiwillig aufgeben, aber erst vor kurzem kam wieder ein Bulldozer, beschützt von Kommandosoldaten mit Gesichtsmasken. Polizisten zerrten eine Familie aus ihrem Haus, dann walzte der Caterpillar durch die Wände.
 
Immer wieder geht das so, und trotzdem kann Siyam nicht klein beigeben. "Ich will hier leben", sagt er: im Haus seines Vaters. Es steht wohl ziemlich genau mitten über Davids Stadt. "Es geht auch um unsere Identität", sagt Siyam. Wie soll es einen Kompromiss geben?
 
Jawad Siyam ist 39 Jahre alt; Doron Spielman von Elad ist 35, der Archäologe Yoni Mizrachi 38. Sie gehören zur selben Generation, und diese Generation wird die Zukunft im Nahen Osten bestimmen. Es sieht nicht so aus, als könnte sie Frieden schließen.

© SPIEGEL Geschichte 3/2009

Donnerstag, 4. Juni 2009

KÖNIG HERODES

König, Monster, Bauherr
 
Herodes der Große ging als Kindermörder in die Geschichte ein, wohl zu Unrecht. Brutal war er offenbar wirklich, machtbewusst - und erfolgreich.
 
Das Neue Testament gilt gemeinhin als "Gute Nachricht". Aber für einige überliefert es auch sagenhaft schlechte Botschaften: Über Herodes I., genannt Herodes der Große, jedenfalls enthält die Schrift einige wenige Sätze, die reichten, um ihn scheinbar auf ewig zum Kindermörder abzustempeln: "Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig", so steht es im Evangelium des Matthäus, "und er ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte." Das ist er also, Herodes, der monströse Verbrecher, der Urböse - und Jude dazu. So ging er in das kollektive Gedächtnis der Menschheit ein.
 

Geschichtsschreibung und ihre Deutung wird inzwischen filigran erforscht. Und so widerfuhr Herodes späte Wiedergutmachung. Heute sind sich viele Historiker in einem Punkt einig: Die Erzählung vom Kindermord sollte die Geburt Jesu noch aufwerten, stimmen aber dürfte sie nicht. Denn der jüdische Historiker Flavius Josephus, dessen Chroniken die Hauptquelle zu Herodes bilden, erwähnt die Mordgeschichte überhaupt nicht.
 
Und auch in Punkt zwei ist alter Glaube neuen Zweifeln gewichen. Ob der "König der Juden" wirklich Jude war, ist Interpretationssache. Wahrscheinlich hatten seine Vorfahren - freiwillig oder gezwungen - den jüdischen Glauben angenommen, Herodes war als Jude erzogen worden, jedoch ohne direkt jüdischer Abstammung zu sein.
 
Klar ist in der Causa Herodes so viel: Er wurde circa 73 vor Christus geboren und starb 4 Jahre vor Christi Geburt. Er war ein machtbewusster Herrscher, König über Judäa, Samarien und Galiläa, über ein Gebiet, das im Norden weit über das heutige Israel hinausgeht. Aber er war nur Herrscher von römischen Gnaden, vielleicht vergleichbar mit einem Ostblock-Staatschef im Sowjetreich. Herodes verwaltete die ihm anvertrauten Gebiete im Auftrag Roms.
 
Aber was ist schon vergleichbar, was für den heutigen Betrachter der Person Herodes vorstellbar? Seine persönliche Lebensbilanz etwa? Zu ihr gehören sagenhafte zehn Ehen, darunter mit Frauen, deren Namen der Nachwelt nicht überliefert wurden. Aus den vielen angeblichen Verbindungen stammen unzählige Kinder. Einige brachten es zu trauriger Bekanntheit, eine Bekanntheit, die auch ein wenig erklärt, wie Herodes in den Ruf des Kindermörders geraten konnte. Er ließ drei seiner eigenen Söhne hinrichten, weil er ihnen Putschpläne und Intrigen vorwarf.
 
Geschichtsschreiber, auf die sich die Herodes-Forschung bezieht, haben vom Hof des Herrschers Erzählungen hinterlassen, die als Vorlage für Kriminalfilme dienen könnten. Von blindem Hass wird berichtet, von verqueren Liebes- und Bettgeschichten ist da die Rede, von Machtkämpfen und heimlichen Bündnissen, von Folter und immer wieder von Hinrichtungen auf Befehl Herodes'.
 
Eine der tödlichen Affären soll sich kurze Zeit vor dem Tod des Königs abgespielt haben, die sogenannte Adler-Affäre. Zwei jüdische Gesetzeslehrer sollen dazu aufgerufen haben, einen großen Adler vom Sockel zu reißen, den Herodes als Zeichen seiner Macht am jüdischen Tempel angebracht hatte. Für die Strenggläubigen, denen Herodes nie Jude genug war, offenbar ein Frevel. Als sich die Randalierer daranmachten, das Steinrelief in Stücke zu schlagen, griff die Tempelwache ein, 40 Personen wurden Herodes vorgeführt. Er machte ihnen den Prozess, ließ die Anstifter lebendig verbrennen und die Mittäter hinrichten.
 
Um Macht ging es in der Affäre, auch um die Macht, die ein Bauwerk symbolisierte. Das Verhältnis des Königs Herodes zu Prunkbauten, könnte man zynisch resümieren, war inniger als das zu seinen Frauen und Kindern. Der Anblick Roms muss ihn als Bauherren geprägt haben. In dieser Hinsicht ist die Bezeichnung Herodes der Große keinesfalls eine Übertreibung.
 
Mit römischer Technik trieb er für die damalige Zeit gigantische Projekte voran: den Tempelbau in Jerusalem, Paläste, Festungen, Wasserleitungen, Hafenanlagen. Spuren der Bautätigkeit des Herodes sind bis heute überall im Heiligen Land erkennbar: der Palast des Herodes etwa am Nordhang von Masada am Toten Meer, dessen Reste im sommerlichen Abendlicht heute die Touristen faszinieren.
 
Von seinem Vater 47 vor Christus als Statthalter von Galiläa eingesetzt, hatte Herodes zu Beginn seiner Karriere vor gefährlichen Widersachern aus Jerusalem fliehen müssen. Damals reiste er erstmals übers Meer in die Ewige Stadt, deren imposante Bauten ihn so nachhaltig beeindruckten. Sie waren nicht nur Zeichen der Macht, sondern auch Symbole der Dauerhaftigkeit in einer Zeit voller Ungewissheiten, voller Angst vor tödlichen Intrigen.
 
Nach seiner Rückkehr aus Rom, wo er zum König von Judäa ernannt worden war, zog er in den Krieg gegen den Hasmonäer-Herrscher Antigonos und schlug seine Feinde vernichtend. Er eroberte Jerusalem zurück und konnte seinen Herrschaftsbereich ausdehnen. Er war jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht, er galt als guter Herrscher, bekämpfte Hungersnöte, senkte die Steuerlast, er brachte die Wirtschaft - speziell die Bronzeherstellung - voran, hielt eine Balance, die ihm als diplomatisches Geschick ausgelegt wurde. Er blieb stets loyal zu Rom und huldigte gar den heidnischen Göttern, was ihm daheim als Verrat am Judentum vorgeworfen wurde.
 
Pompös muss das Leben des Herodes zu Ende gegangen sein, mit einer prachtvollen Beisetzung in einem eigenen Mausoleum südlich von Jerusalem. Von einer gewaltigen Prozession wird berichtet, von einem Leichnam in Purpur, von Hunderten Dienern, die dem Trauerzug folgten.
 
2007 wurde seine Grabstätte auf dem Herodeion entdeckt, einem Hügel im Süden von Jerusalem, den der König für seinen Festungs- und Palastbau eigens hatte erhöhen lassen. Seitdem werden Funde ausgewertet, das Bild dieses bedeutenden Herrschers wird präzisiert. Aber die spektakuläre Entdeckung wurde zum Zankapfel der Politik. Denn die historische Stätte liegt im Westjordanland, im Gebiet der Palästinenser also. Und so streiten Israelis und Palästinenser darüber, wem das Erbe des Herodes wirklich zusteht. In dieser Hinsicht scheint sich über Tausende von Jahren im Heiligen Land wenig geändert zu haben.

© SPIEGEL Geschichte 3/2009