Sonntag, 15. März 2009

Wie Mensch und Tier denken

Der Mensch hält sich für das am höchsten entwickelte Lebewesen. Zurecht? In einem edition-unseld-Essay lotet der Philosoph Reinhardt Brandt aus, was Denken, Kommunikation und Urteilen auszeichnet. Auf die Frage, ob Tiere denken können, findet er eine klare Antwort. Man rechnet im Alltagsverständnis und in der Biologie mit Zuständen und Fähigkeiten von Tieren, die nicht nur körperlich-materiell sind wie die Eigenschaften der Steine und Billardkugeln oder vegetativ wie die der Pflanzen; Tiere haben nach einem allgemeinen Urteil oder Vorurteil über diese Eigenschaften hinaus ein ihren individuellen Bewegungen angepasstes Wahrnehmungssystem, sie äußern Lust- und Schmerzempfindungen und können verzweifelt sein, sie träumen offenbar wie wir, es gibt kluge und dumme Individuen in bestimmten Gattungen, Tiere sind zerstreut oder konzentriert, sie leben in einer Medienwelt, senden und empfangen Zeichen und verbinden diese miteinander, sie basteln einfachste Werkzeuge, werden wütend, wenn ihnen etwas misslingt, sie bilden Hierarchien in ihren jeweiligen Sozietäten, sie streiten und versöhnen sich, sind stolz und unterwürfig, sie haben ein diesen Fähigkeiten entsprechendes Bewusstsein und Selbstbewusstsein; die Tierpsychologie wird heute ergänzt durch die Psychotherapie von Tieren. Über die genannten Fähigkeiten verfügt auch der Mensch. Gehört jedoch zu den mentalen oder psychischen Kompetenzen irgendwelcher Tiere auch das Denken? Wir kennen das Denken als eine von uns ausgeübte mentale Tätigkeit; von ihr fordern wir, dass sie dazu in der Lage ist, Urteile mit drei Eigenschaften zu bilden: Sie müssen sich auf etwas Urteilexternes beziehen können, entweder bejahen oder verneinen, und sie müssen wahr oder falsch sein können. Diese drei Bedingungen werden unter anderem verwirklicht in der formalen Struktur "S ist / ist nicht P", "Der Hut ist / ist nicht dreieckig". Das Prädikat "dreieckig" bezieht sich nicht auf das Wort "Hut", sondern auf ein bestimmtes, durch "Hut" bezeichnetes Ding im Raum. Hätte das Urteil nicht diese deiktische Funktion, könnte allenfalls der Satz: "Hut hat 3 Buchstaben" wahr oder falsch sein; daran delektierten sich griechische Müßiggänger und Sophisten, aber sonst kaum jemand. Das Urteil also zeigt imaginativ auf etwas, das außerhalb seiner selbst liegt. In der Aussage werden nicht Zeichen aneinandergefügt wie in den uns bekannten Lautsequenzen der Tiere, sondern Symbole so vereint, dass ihre formale Einheit auch dann besteht, wenn die inhaltliche Trennung behauptet wird.. Wenn ich sage: "Tiere können denken", dann muss ich komplementär denken oder sagen können: "Tiere können nicht denken"; das bedeutet aber, dass es eine formale Urteilseinheit gibt, die auch dann besteht, wenn die Inhalte (Tiere, Denken) getrennt werden. Die Griechen hatten in ihrer nur teilweise berechtigten Arroganz gegenüber den anderen Nationen den Verdacht, dass diese zum Denken und zur Urteilsbildung nicht in der Lage seien, sondern nur Lautzeichen (vielleicht nach bestimmten grammatischen Regeln) addieren könnten: Barbarbara (barbaroi). Es gibt jedoch keine menschliche Sprache, die nicht (wie immer geordnet) die logische Elementarform enthielte; jeder Sprecher also kennt und benutzt sie, auch wenn er sie nicht zum Gegenstand seiner Überlegung macht. Neben dem Denken in Urteilsform gibt es andere kognitive Leistungen wie die gesteuerte oder unwillkürliche Imagination von Bildern, die Erinnerung, die Assoziation von Vorstellungen oder intentionale Akte wie die Absicht, jetzt aufzustehen; sie sollen nur zum Denken zählen, wenn sich die Urteilsform in ihnen nachweisen lässt. Es ist gegen diese Überlegung eingewandt worden, das Denken vollziehe sich doch subjektiv ganz anders als in der hier künstlich herausgestellten Urteilsform; der Mensch habe perfekt gedacht, bevor Aristoteles seine Urteils- und Schlusslehre entwickelt habe. Die Antwort: Der Einwand wird wie jeder andere Einwand gedacht und geäußert; er hat nicht zufällig, sondern notwendig die angegebene Urteilsform. Er ist prinzipiell in jede andere menschliche Sprache übersetzbar. Im Zentrum des ersten Teils der Untersuchung steht die genaue Analyse der universellen Urteilsform und ihrer für das Thema relevanten Voraussetzungen und Implikationen. Es lässt sich plausibel machen, dass die gesamte menschliche Welterfassung und Kultur an der Urteils- und Mathematikfähigkeit des Menschen hängt, dass sogar die eine gemeinsame öffentliche Welt eine ideelle Kreation der im Zeigen und Urteilen vereinten Aufmerksamkeit der Menschen ist. Tiere nehmen, so weit wir erkennen, an dieser Welt nicht teil als Subjekte, sondern bleiben Objekte unserer Erkenntnisse, so weit sie uns in anderen körperlichen und psychischen Fähigkeiten auch überlegen sind. Das Hauptstück der Untersuchung ist der Titelfrage gewidmet: Können Tiere denken? Vermutlich können sie es nicht. Den Tieren fehlen elementare Voraussetzungen oder wenigstens Vorformen des Urteils wie zum Beispiel die Fähigkeit, als Individuum die Aufmerksamkeit von anderen durch den Akt des Zeigens auf einen bestimmten, nur optisch wahrnehmbaren Gegenstand oder Sachverhalt zu lenken. Das auf etwas Entferntes referierende, blickbegleitete Zeigen geschieht mit der Hand, dem "Organ der Organe", oder dem Arm, nicht aber mit dem Rumpf oder den Beinen oder dem Kopf. Die übrigen mit Armen und Händen ausgestatteten Primaten hätten problemlos die physische Möglichkeit, diese für uns Menschen ganz einfache Handlung zu vollziehen; sie tun es jedoch nie und können es, wiewohl im Besitz der dazu nötigen Glieder, auch nicht lernen. Es wird auch nie außer vielleicht in Märchen berichtet, ein Elefant habe mit seinem physisch dazu geeigneten Rüssel auf etwas gezeigt, zum Beispiel auf einen besonders schönen Tempel oder den aufgehenden Mond. Es gibt bei den Tieren auch kein irgendwie geartetes Surrogat für das Zeigen, das den gleichen epistemischen und öffentlichen Effekt hätte. Die Sachverhalte nun, auf die wir die Aufmerksamkeit anderer nicht durch den Blick und die Hand, sondern durch sprachliche Urteile lenken, teilen mit den gestisch gezeigten Gegenständen die Eigentümlichkeit, dass sie entfernt sein können und dass sie nicht unsere unmittelbaren Lebensinteressen betreffen müssen, beim Urteil braucht es sie nicht einmal zu geben, sei es jetzt oder überhaupt. Worüber wir urteilen, ist dem Urteil selbst so extern wie der Gegenstand des Zeigens, er ist davon im wörtlichen Sinn nicht berührt (im Gegensatz zu Gebrauchshandlungen, die sich auf den Gegenstand beziehen). Die zeigende oder urteilende Person, zweitens der Adressat oder die Adressaten, und drittens der Gegenstand, um den es geht, sind drei Elemente, die einen Raum der Öffentlichkeit aufspannen, den die Tiere nicht betreten. Der Gegenstand, auf den hingezeigt wird, ist dadurch öffentliches Objekt einer interessierten oder auch interesselosen Neugier. Nicht nur das Zeigen fehlt den Tieren, sondern auch die Neugier, speziell gibt es keine tierischen Handlungen, die sich nur als Suche nach Ursachen erklären lassen; das aufgeweckte Kind dagegen blickt und zeigt auf etwas, auf das auch die anderen sehen oder hören sollen, und es sucht zweitens nach der Ursache eines Geschehens. Wenn Kausalität im Verhalten von Tieren eine Rolle spielt, dann immer bezogen auf das eigene körperliche Tun; Tiere können Hebel bewegen und dadurch die (vielleicht nur durch assoziierte Zeichen wie ein Klingelgeräusch vermittelte) Freigabe von Futter bewirken; aber keine der selbstbezogenen, von uns kausal genannten Tätigkeiten berechtigt zu der Vorstellung, Tiere hätten einen Begriff von kausalen Zusammenhängen. Ja oder Nein? Der Mensch kann entscheiden. Der sprachliche Ausdruck der interessierten oder interesselosen Neugier ist die Frage. Sie ist strukturell möglich durch die vorgegebene Urteilsform, "Ist S P oder nicht?" "Können Tiere denken?" Jedes Urteil lässt sich als Antwort auf eine Frage fassen, und auf die Nachfrage folgt konsequent auch die Begründung, das Warum des Urteils. Bei dieser genetischen Ableitung der Urteilsform versuchen wir, die Integration der Verneinung in das ursprünglich nur bejahende Urteil als Produkt der korrigierenden Intervention oder Frage einer oder mehrerer anderer Personen zu interpretieren, so dass die Urteilseinheit von Bejahung oder Verneinung als Synthese einer dialogischen Situation erscheint. Zweitens: Wenn es so etwa gibt wie mentale Freiheit, sollte man sie vielleicht nicht im Willen suchen, sondern in der kontrollierbaren geistigen Möglichkeit der Überlegung von bejahenden oder verneinenden Antworten auf Fragen. Tiere können auf nichts zeigen, sie sind partout nicht neugierig, speziell nicht kausal neugierig, und es lässt sich bei ihnen keine Kommunikation beobachten, die die Struktur von Urteilen hätte, es bleibt immer bei einer nur additiven, vielleicht grammatisch geordneten Sequenz von positiven Zeichen, die keine Möglichkeit bietet, in eine Frage oder Negation umgeformt zu werden. Zeigen, Neugierigsein und Urteilen oder Fragen kann den klügsten Tieren auch durch die härteste oder einfühlsamste Dressur nicht beigebracht werden. Wenn Elterntiere ihre Jungen zum Beispiel in der Technik des Jagens unterweisen, dann machen sie es vor und halten auch die Jungen zum eigenen Tun an; aber sie zeigen nicht auf Objekte der Fernsinne, sie weisen auf keine Ursachen und stellen ihnen keine vernünftigen oder unvernünftigen Fragen. Umgekehrt haben isolierte taubstumme Menschen spontan eine Zeichensprache entwickelt, die sprachliche Urteilsakte der Form "S ist / ist nicht P" enthält; etwas Derartiges ist bei Tieren nie beobachtet worden. Wenn es somit höchst unwahrscheinlich ist, dass Tiere über das uns geläufige Urteilsdenken verfügen, dann lautet die Folgerung für die einschlägige Forschung, nach der mentalen Ausstattung zu suchen, die die oben genannten kognitiven oder mentalen Leistungen ohne Urteilsdenken ermöglicht, besonders dann, wenn sie denk- oder urteilsähnlich sind, wenn etwa Tiere uns oder andere Tiere zu täuschen scheinen. Aber hiermit ist bereits das Gebiet der biologischen Detailforschung betreten.

 

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,612719,00.html

Dienstag, 10. März 2009

Sokrates

Sokrates. Da die unentbehrlichsten Geschäfte der Menschen größtentheils unter freyem Himmel verrichtet werden müssen, wie z. B. der Kriegsdienst, der Ackerbau, und eine Menge anderer Arbeiten und Beschäftigungen des gemeinen Lebens, dünkt dich nicht, es sey eine sehr große Nachlässigkeit, daß so Wenige sich üben, ihren Körper gegen Frost und Hitze abzuhärten?

Aristippos. Allerdings.

Sokrates. Ein künftiger Regent oder Befehlshaber wird also auch zu dieser Art von Uebung angehalten werden müssen?

Aristippos. O ganz gewiß muß er das.

Sokrates. Wenn wir denn also darüber einig sind, daß nur solche, die in allen besagten Dingen eine völlige Gewalt über sich selbst erlangt haben, für regierungsfähig zu achten sind, werden wir nicht alle, die es nicht so weit gebracht, mit denen, die an Staatsverwaltung ganz und gar keinen Anspruch machen, noch zu machen haben, in Eine Klasse stellen müssen?

Aristippos. Unstreitig.

Sokrates. Nun dann, mein lieber Aristipp, da du beyde Klassen so gut zu stellen weißt, hast du auch schon überlegt, in welche von beyden du dich selbst füglich stellen könnest?

Aristippos. Wenn das alles mir gelten soll, Sokrates, so muß ich dir sagen, daß ich weit entfernt bin, an einen Platz unter denen, die es aufs regieren angelegt haben, Anspruch zu machen. Offenherzig zu reden, ich hege keine große Meinung von dem Verstand eines Menschen, der an der Sorge sich selbst das Nöthige zu verschaffen, wiewohl sie ihm alle Hände voll zu thun giebt, nicht genug hat, sondern sich auch noch mit der Verpflichtung beladet, für die Bedürfnisse der übrigen Staatsbewohner zu sorgen. Ist es nicht die größte Thorheit, um andrer Leute willen sich selbst so manchen Genuß, wozu man Lust hätte, zu entziehen, und da man mit aller Mühe und Arbeit gleichwohl nicht immer alle Wünsche des Publikums befriedigen kann, zu riskieren, daß einem am Ende noch der Prozeß deswegen gemacht wird? Denn, es ist nun einmal nicht anders, das Volk glaubt von seinen Obern alles fordern zu können, was unser einer seinen Sklaven zumuthet. Ich verlange von meinen Leuten, dafür zu sorgen, daß ich mit allem was ich brauche immer reichlich versehen sey, aber daß sie selbst nichts davon anrühren; und gerade so macht es das Volk in Republiken mit seinen Vorstehern; ihm sollen sie alles schaffen was sein Herz gelüstet, aber sie sollen immer reine Hände haben. Meine Meinung von der Sache ist also diese: Wem es darum zu thun ist, recht viel Sorge und Plackerey zu haben, und sich und andern immer was zu thun zu machen, der mag sich dem Staat widmen, und den wollen wir, auf besagte Weise, zum regieren erziehen lassen; ich für meinen Theil stelle mich unter die, welche ihr Leben so gemächlich und angenehm als möglich zuzubringen wünschen.

Sokrates. Nun so wollen wir, wenn's dir gefällig ist, untersuchen, wer angenehmer lebt, die Regierenden, oder die Regierten?

Aristippos. Recht gern.

Sokrates. Gehen wir einmal die bekanntesten Völker durch. In Asien z. B. regieren die Perser; die Syrier, Phrygier und Lydier hingegen werden regiert; in Europa regieren die Skythen, und die Mäoten sind ihnen unterthan; in Lybien (Afrika) regieren die Karchedonier (Karthager) und die Libyer müssen sich von ihnen beherrschen lassen. Welche von diesen leben nun, deiner Meinung nach, angenehmer? Oder, weil du doch auch zu den Griechen gehörst, welche unter den griechischen Völkern scheinen dir angenehmer zu leben, die regierenden, oder die regierten?

Aristippos. Das kann mir gleich viel seyn. Ich, für meine Person, bin Niemandem dienstbar. Mich dünkt, es giebt zwischen beyden noch einen Mittelweg, der weder durch Herrschaft noch Dienstbarkeit, sondern durch Freyheit gerade zur Glückseligkeit führt, und das ist der, den ich zu gehn versuche.

Sokrates. Nun freylich wohl, wenn er, so wie er weder durch die Herrschaft noch die Dienstbarkeit geht, auch nicht durch die Menschen gienge, möchtest du recht haben; da du aber unter Menschen lebst, und doch weder selbst regieren, noch regiert seyn willst, so wirst du, denke ich, bald genug erfahren, daß die Mächtigen es immer in ihrer Gewalt haben, den Schwächern, sowohl in Masse als einzeln, das Leben sauer zu machen und sie dahin zu bringen, daß sie ihnen dienstbar seyn müssen. Oder weißt du nicht, wie wenig Bedenken die Stärkern sich im Kriege darüber machten, die Früchte zu schneiden die der Schwächere gesäet, und die Bäume umzuhauen die er gepflanzt hat, kurz, wie sie ihn, wenn er sich nicht im Guten unterwerfen will, von allen Seiten so lange zu ängstigen wissen, bis sie ihm begreiflich gemacht haben, er thue besser zu dienen, als mit Stärkern als er ist in ofner Fehde zu leben? Und wie könnte dir unbekannt seyn, daß es auch im bürgerlichen Leben nicht anders hergeht, und daß, wer Muth und Vermögen hat, immer Mittel findet den Furchtsamen und Unmächtigen unter sich zu bringen und Vortheil von ihm zu ziehen?

Aristippos. Dafür hab' ich ein gutes Mittel. Eben darum, damit es mir nicht so ergehen könne, schließe ich mich in keinen besondern Staat ein, sondern lebe allenthalben als ein Ausländer.

Sokrates. Das gesteh ich! Da hast du dir eine feine List ausgedacht! Freylich, seitdem Sinnis und Skeiron und Prokrustes todt sind, ist ein Fremder bey uns auf der Landstraße so ziemlich vor ihres gleichen sicher. Indessen sehen wir doch, daß selbst diejenigen, die in ihrem eignen Vaterlande die Ersten im Staate sind, mit allen Vortheilen, die sie vor andern voraus haben, es doch nicht dahin bringen können, sich gegen Beeinträchtigungen sicher zu stellen. Sie lassen es zwar in dieser Absicht an Gesetzen nicht fehlen; sie bewerben sich, außer ihren Geschlechts- und Blutsverwandten, noch um andere Freunde, um einen Anhang zu haben, auf dessen Beystand sie sich im Nothfall verlassen können; sie befestigen ihre Städte, schaffen Vorräthe von Waffen herbey, um auf den Fall eines Angriffs im Vertheidigungsstande zu seyn, und setzen sich über dies noch in auswärtige Verbindungen; - und mit allen diesen Anstalten und Vorkehrungen zu ihrer Sicherheit, sind sie dennoch nicht vor Beleidigung gedeckt. Und du, der du von dem allen nichts hast, einen großen Theil deines Lebens auf den Landstraßen, wo man denn doch noch immer mancherley Beleidigungen ausgesetzt ist, zubringst, und in allen Städten, die du durchwanderst, immer weniger als der geringste Bürger zu bedeuten hast, also gerade so einer bist, über den böse Buben sich am liebsten her machen: du bildest dir ein, vor Beleidigungen sicher zu seyn, weil du ein Fremder bist? Worauf gründest du diese Zuversicht? Etwa darauf, weil dir in allen Städten, wenn du ankommst und wenn du wieder weiter ziehst, öffentliche Sicherheit zugesagt wird? Oder vielleicht auch, weil du denkst, niemand werde eben viel dabey zu gewinnen glauben, wenn er dich zum Sklaven bekäme? Ich weiß nicht ob man einem Menschen, der etwas besser als der unterste unter allen ist, etwas härteres und zugleich gröberes sagen kann, als was Xenofon den Sokrates hier dem armen Aristipp ins Gesicht sagen läßt. - Beynahe sollte man denken, Sokrates habe ihm das zuvorerwähnte Privilegium eines Bürgers (zumal eines Athenischen) sich alles gegen einen Fremden zu erlauben, sogleich in einer kleinen Probe fühlbar machen wollen; und Aristipp erscheint, durch die gute Art, wie er diese attische Urbanität, aus Ehrerbietung, von dem alten Sokrates erträgt (vermuthlich gegen Xenofons Absicht) in einem vortheilhaften Lichte. - Das Beleidigende dieses Kompliments wird durch den ironischen Ton der ganzen Rede, und der Frage: oder wie machst es du? noch salzigter und sogar bitter. So viel kann doch wohl Sokrates sich über Aristipp, der nicht etwa ein armer Schlucker, sondern ein Fremder von gutem Hause und Vermögen war, nicht herausgenommen haben, wenn er ihn im Ernste gewinnen wollte? Auch diese Stelle wird also auf Xenofons Rechnung kommen müssen, und der Behauptung des Diogenes zu keinem sehr starken Belege, oder doch wenigstens zu keinem Beyspiel, wie schonend Xenofon den Aristipp behandelt habe, dienen können.

  Und in der That, wer möchte einen Menschen gern in seinem Hause haben, der nichts arbeiten wollte und dem nur das köstlichste gut genug wäre? - Wahr ists indessen, daß Hausherren, die solche Sklaven haben, eben nicht sehr verlegen sind, wie sie sich mit ihnen helfen sollen. Den Kitzel vertreiben sie ihnen durch Hunger; damit sie nichts stehlen können, wird alles sorgfältig vor ihnen verschlossen; davon zu laufen, verbietet man ihnen durch Fußschellen, und gegen die Faulheit sind Schläge ein bewährtes Mittel. Oder wie hältst du es mit deinen Sklaven, wenn du einen dieses Gelichters unter ihnen entdecktest?

Aristippos. Ich züchtige ihn ohne Barmherzigkeit so lang und so viel, bis er seine Schuldigkeit thut. Aber, erlaube mir zu fragen, Sokrates, worin sind die jungen Leute, die zu jener königlichen Kunst erzogen werden, in welche du mir die höchste Glückseligkeit zu setzen scheinest, von denen verschieden, die aus Noth elend leben müssen, wenn sie freywillig hungern und dürsten, frieren und den Schlaf sich entziehen? Ich für meinen Theil sehe nicht worin der Unterschied liegen soll, ob das nehmliche Fell freywillig oder unfreywillig durchgegerbt wird, oder ob überhaupt eben derselbe Leib alle diese Peinigungen willig oder gezwungenerweise aushalten muß. Man muß wahnsinnig seyn, um den Willen zu haben sich selbst zu peinigen.

Sokrates. Wie, Aristipp? du siehst hier keinen Unterschied? Er fällt doch, dächte ich, stark genug in die Augen. Wer aus freyem Willen hungert, kann auch essen wenn er will; das ist aber nicht der Fall bey dem Gezwungenen. Ueberdies versüßt sich der erste die gegenwärtige Unlust durch die Hofnung, wie die Jäger der gehofften Beute wegen sich allen Beschwerlichkeiten der Jagd mit Vergnügen unterziehen. Gleichwohl ist der Preis, womit der Jäger sich für seine Mühe belohnt hält, etwas sehr unbedeutendes: Aber wer sich keine Anstrengung dauern läßt um die Freundschaft edler Menschen zu gewinnen, oder um ein braver Kriegsmann und Heerführer zu werden, oder überhaupt seine Leibes- und Gemüthskräfte so zu üben, daß er tüchtig werde seinem Hause wohl vorzustehen, seinen Freunden nützlich zu seyn, und sich um sein Vaterland verdient zu machen: siehst du nicht, daß schon die Mühe selbst, die er sich geben muß, um zu dem allen zu gelangen, ihr Vergnügen mit sich führt, und daß ein fröhliches Gemüth, der Beyfall seines eigenen Herzens und die Hochachtung und Zuneigung anderer Menschen eine reiche Belohnung seiner Arbeiten und Aufopferungen sind? Noch mehr: Leichte, blos zur Kurzweil vorgenommene Beschäftigungen und Genüsse die mit keiner Mühe erkauft werden, können weder dem Körper eine harte und gesunde Beschaffenheit zuwege bringen, wie die Meister der Gymnastik behaupten, noch die Seele mit irgend einer schätzbaren Kenntniß bereichern: angestrengte und ausdaurende Bemühungen hingegen verschaffen uns den Genuß des Besten und führen zu großen und preiswürdigen Dingen. So sagt schon Hesiodos irgendwo:

Zu der Untugend ists leicht auch Schaarenweise zu kommen,

Breit und glatt ist der Weg, und nur zu nahe ihr Wohnsitz;

Aber auf steile, mit saurem Schweiß nur erklimmbare Höhen

Haben die Götter die Tugend gesetzt, langwierig und rauh ist

Anfangs der Weg zu ihr; doch ist erstiegen der Gipfel,

Dann ist er leicht und freundlich zu gehn, so schwierig er erst war.

Auch bezeugt es der Dichter Epicharmos, da er sagt:

                - für Müh und Arbeit

Verkaufen uns die Götter alles Gute.

Und an einem andern Orte:

Du suchst das Glück im Schoos der Weichlichkeit,

Betrogener, Scham und Reue wirst du finden.

Auch der berühmte Prodikos erklärt sich in der Schrift vom Herkules, die er öfters vorzulesen pflegt, über die Tugend auf eben diese Weise, und zwar, so viel ich mich erinnern kann, folgendermaßen. Diese dem Prodikos zugeschriebene allegorische Erzählung von der Wahl des Herkules ist unstreitig eines der schönsten Ueberbleibsel des Alterthums und in ihrer Art eben so schätzbar als die vorzüglichsten Werke der Bildnerkunst, die aus jenem goldnen Alter der Musenkünste, wo so viele Schöpfer schöner Werke aller Gattungen in einem Jahrhundert sich zusammenfanden, unsre Zeit erreicht haben. Wie allgemein sie gefallen haben müsse, beweisen schon allein die häufigen Nachahmungen, deren Hr. P.  Schneider in seiner vortreflichen Ausgabe der Xenof. Memorabilien nicht weniger als zwölf unter Griechen und Römern nennt, und denen leicht eine eben so große Anzahl von Neuern beygefügt werden könnte; die aber alle hinter Lucians, dem Original selbst den Vorzug streitig machendem, Traume weit zurückbleiben. Uebrigens ist unter den Gelehrten, so viel ich weiß, ausgemacht, daß in dieser Erzählung, so wie sie uns hier von Xenofon mitgetheilt ist, dem ersten Erfinder schwerlich mehr als Komposizion und Zeichnung angehöre. - In mehr als Einer Rücksicht lesenswürdig ist Shaftesburys Idee eines historischen Gemähldes von der Wahl des Herkules, die den 7ten Traktat seiner sogenannten CHARACTERISTICS OF MEN, MANNERS, OPINIONS AND TIMES ausmacht.

Montag, 9. März 2009

Sokrates

Aristippos. Xenofon, der uns dieses Gespräch zu Anfang des zweiten Buchs seiner Sokratischen Denkwürdigkeiten mittheilt, führt es als ein Beispiel auf, wie Sokrates diejenige, die sich vor andern zu ihm hielten und durch ihn besser zu werden wünschten, Τους συνοντας. Sokrates machte nie den Lehrer von Profession, was man damals σοφιστευειν nannte; er hatte also auch, im gewöhnlichsten Sinne der Worts, keine Schüler, oder Lehrlinge; und dies ist eben der Grund, warum Xenofon das Wort συνειναι gebraucht, um das Verhältniß zwischen Sokrates und den, die seinen Umgang vorzüglich suchten, zu bezeichnen. Es ist daher immer noch besser gethan, συνοντες durch Freunde als durch Schüler zu geben, wiewohl nicht alle, die von seinem Umgang zu profitiren suchten, seine Freunde in der engern Bedeutung des Wortes waren. von allem Uebermaß in sinnlichen Genüssen und Befriedigung natürlicher Triebe abzuhalten, und dagegen zur Nüchternheit, zur Thätigkeit, und zum Ausdauren unter allen Arten von Beschwerlichkeiten, denen man im Leben durch Noth oder Pflicht unterworfen werden kann, anzugewöhnen sich beflissen habe. Da er wußte (so fährt Xenofon fort) daß einer von denen, die sich zu ihm hielten, in diesem Punkt (nemlich im Hang zur Ueppigkeit, und in der Abgeneigtheit sich irgend eine sinnliche Befriedigung zu versagen) wenig Gewalt über sich selbst habe, legte er ihm einst diese Frage vor, - und nun folgt die vorstehende Unterredung mit Aristipp, die, wie man sieht, durch diese kleine Vorrede Xenofons auf eine dem guten Aristipp eben nicht sehr rühmliche Art herbeygeführt wird. Auch in dem Gespräch selbst läßt Xenofon seinen Meister dem jungen Mann einige sehr harte Dinge sagen. Die Versicherung des Diogenes von Laerte, daß Xenofon dem Aristipp nicht günstig gewesen sey, möchte also wohl ihren guten Grund gehabt haben, wiewohl er hierin bloß gemeine Sache mit den übrigen Sokratikern machte; daß er aber (wie der besagte Kompilator vorgiebt) diesen Diskurs gegen die Wollust dem Sokrates blos aus Haß gegen Aristipp beygelegt, d. i. angedichtet habe, scheint mir ohne Grund zu seyn, oder bedürfte wenigstens eines stärkern Beweises. Ob ich nun gleich keine Ursache sehe, zu zweifeln, daß dieses Gespräch, dem Hauptinhalt nach, zwischen Sokrates und Aristipp wirklich vorgefallen sey, so ist mir doch eben so wenig zweifelhaft, daß Xenofon sich, wenigstens in einzelnen Stellen, die Freyheit genommen von dem seinigen hinzuzuthun und den Sokrates so reden zu lassen, wie er glaubte, daß es seiner Denkart und seinem Karakter am gemäßesten sey; und da könnte dann wohl die persönliche Abneigung gegen Aristipp nicht ohne allen Einfluß auf den Ton des Gesprächs überhaupt und besonders auf einige auffallende Stellen, die im folgenden bemerkt werden sollen, geblieben seyn.

Sokrates. Sage mir, Aristipp, wenn dir ein paar junge Leute übergeben würden, um den einen zum regieren, den andern so, daß er weder Lust noch Vermögen zum regieren habe, zu erziehen, - wie wolltest du es anstellen? - Machen wir, wenn dirs recht ist, gleich mit der Nahrung als dem unentbehrlichsten, den Anfang.

Aristippos.(lächelnd) Die Nahrung möchte allerdings, da man ihrer zum Leben nicht wohl entbehren kann, der erste Punkt seyn.

Sokrates. Ohne Zweifel werden unsre beyden Zöglinge um Essenszeit zu Tische gehen wollen?

Aristippos. Man sollt' es denken.

Sokrates. Nun könnte aber gerade um diese Zeit ein dringendes Geschäfte abzuthun seyn: welchen von beyden wollten wir so gewöhnen, daß er lieber die Befriedigung seines Magens aufschieben möchte, als ein nöthiges Geschäft?

Aristippos. Freylich wohl den ersten, der zum Regieren erzogen werden soll, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß die Staatsgeschäfte unter seiner Regierung ungethan bleiben.

Sokrates. In diesem Fall hat es wohl mit dem Trinken dieselbe Bewandtniß? Er wird sich auch gewöhnen müssen, Durst leiden zu können?

Aristippos. Keine Frage!

Sokrates. Und wie ist es mit dem Schlafe? Welchen von beyden wollen wir so erziehen, daß er spät zu Bette gehen, früh aufstehen, und, wenn's nöthig ist, die ganze Nacht wach bleiben könne?

Aristippos. Immer noch den ersten, versteht sich.

Sokrates. Und der Afrodisischen Befriedigungen Das Wort Liebe sollte, däucht mich nie so sehr mißbraucht und herabgewürdiget werden, um καθ' υποκρισμον die von den Griechen mit dem Worte αφροδισια bezeichnete, oft sehr unsittliche Befriedigung eines Triebes zu verschleiern, für welchen, sobald er von dem reinen Zweck der Natur getrennt wird, keine Sprache ein anständiges Wort hat. Da der Name Afrodite, für Venus, allen deutschen Lesern bekannt ist, so däucht mich, es geschehe durch den Ausdruck Afrodisische Befriedigungen (αφροδισια, res venereae) der Pflicht, sich dem Leser verständlich zu machen, ein hinlängliches Genüge, und es werde zugleich die höhere Pflicht beobachtet, ungleichartige Dinge nicht mit einander zu vermengen, und einem Worte, das den schönsten und edelsten Affekt der menschlichen Seele zu bezeichnen bestimmt ist, durch einen, obgleich wohlgemeinten, Mißbrauch eine so leicht vermeidliche Zweydeutigkeit zuzuziehen. Ein ausländisches Wort, in so fern es nur verständlich genug und überhaupt so beschaffen ist, daß es unter gesitteten Menschen gehört werden kann, dünkt mich hiezu immer das schicklichste. sich enthalten zu können, um auch von diesen sich nicht an pflichtmäßigen Geschäften verhindern zu lassen?

Aristippos. Eben denselben.

Sokrates. Ferner, keine Arbeiten noch Beschwerlichkeiten zu scheuen, sondern sie vielmehr freiwillig zu übernehmen, welchen von beyden wollen wir dazu anhalten?

Aristippos. Unläugbar den, der zum Regieren gebildet werden soll.

Sokrates. Und überhaupt alles zu lernen, was man wissen und können muß, um über seine Gegner Meister zu werden, welcher wird dessen wohl am meisten bedürfen?

Aristippos. Freylich der künftige Staatsmann; denn ohne diese Kenntnisse und Geschicklichkeiten würde ihm alles übrige zu nichts helfen.

Sokrates. Dünkt dich nicht, einer der so erzogen ist, werde von seinen Gegnern nicht so leicht gefangen werden können, wie andre Thiere? Denn unter diesen giebt es einige, die ihr Magen so kirre macht, daß sie, ihrer natürlichen Schüchternheit ungeachtet, dem Reiz der Lockspeise nicht widerstehen können, und dadurch gefangen werden; andere, denen man durch (betäubende) Getränke nachstellt; noch andere, wie z. B. die Wachteln und Repphühner, die, sobald sie von der Stimme eines Weibchens gelockt werden, in brünstiger Begierde herbey geflogen kommen, und, über der gehofften Lust alle Gefahr vergessend, sich ins Netz des Vogelstellers stürzen.

Aristippos. Dagegen ist nichts zu sagen.

Sokrates. Dünkt dich nicht auch, es gereiche einem Menschen zur Schande, sich von einem blinden Trieb wie die unverständigsten Thiere überwältigen zu lassen? Die Ehebrecher, zum Beyspiel, wissen, indem sie andern ins Gehege gehen, recht gut, daß sie Gefahr laufen, in die Strafe des Gesetzes zu fallen, und was für schreckliche und schmähliche Mißhandlungen ihrer warten, wenn sie ertappt werden; und doch ist weder Schaden noch Schande vermögend, den Ehebrecher zurückzuhalten, daß er sich nicht blindlings in die größte Gefahr stürze, um einen Trieb zu befriedigen, zu dessen Stillung ihm so viele gefahrlose Wege offen stehen. Muß ein solcher Mensch nicht ganz und gar von einem bösen Dämon besessen seyn? Hr. Weiske (ein geschickter Lehrer an der berühmten Schulpforte, aus welcher so manche der vorzüglichsten Schriftsteller, Dichter und Filologen unsers Jahrhunderts hervorgegangen sind) der i. J. 1795. eine sehr brauchbare Uebersetzung der Xenofontischen Apomnemoneumaten, mit schätzbaren Sacherläuterungen und kritischen Anmerkungen (bey C. Fritsch in Leipzig) herausgegeben hat, ist, so viel ich weiß, der erste, der die Bemerkung gemacht, daß Sokrates hier nicht nur »auf einmahl aus seiner natürlichen Sprache, durch einen plötzlich entstandenen Unwillen gegen die Ehebrecher, in einen rednerischen Ton fällt, sondern sich auch von seinem vorgesteckten Ziel entfernt,« indem dieser pathetische Ausfall gegen die Ehebrecher in der That, wie jedem Leser (wenigstens nach dieser Erinnerung) in die Augen fallen muß, ein Auswuchs ist, der die schöne Symmetrie der ganzen Komposizion verunstaltet. Er hält daher für sehr wahrscheinlich, daß die ganze Stelle von ωσπερ οι μοιχοι (die Ehebrecher zum Beyspiel) bis zu Ende der Rede ein fremder Zusatz sey. Dies möchte ich ihm gleichwohl ohne die größte Noth nicht zugeben, - es wäre denn, wenn er hätte sagen wollen, daß Xenofon der Urheber desselben gewesen sey, welches aber seine Meynung keineswegs zu seyn scheint. Mich dünkt ich sehe hier zwey Auswege, den Text, wie er ist, zu retten. Aristipp war um die Zeit, daß dieser Dialog gehalten seyn mochte, wahrscheinlich nicht älter als höchstens fünf und zwanzig Jahre Sokrates starb im ersten Jahre der 95sten Olympiade, und Aristipp, dessen Geburts- und Todesjahr unbekannt sind) lebte noch im 2ten Jahr der 109ten Olympiade (also noch über 60 Jahre nach dem Tode des Sokrates) zu Athen, wohin er sich kurz vor der Deportazion des jüngern Dionysios nach Korinth, vom Hofe des letztern zurückgezogen hatte. Die feinen und mäßigen Wollüstlinge (deren Aristipp einer war) werden zwar gewöhnlich sehr alt; aber 80 bis 90. Jahre sind auch ein ganz hübsches Alter; und Aristipp müßte wenigstens 84. alt worden seyn, wenn er im Todesjahr des Sokrates 25 Jahre gelebt hätte. Da aber Hoffilosofen von 80. Jahren zu allen Zeiten seltene Vögel waren, so bin ich geneigter zu glauben, daß Aristipp, als er mit dem alten Sokrates lebte, wenig über 20 Jahre alt gewesen seyn dürfte. und also (nach der Pythagorischen Angabe der Horen des menschlichen Lebens) noch ein ADOLESCENTULUS, dem, bey seinen ohnehin nicht allzustrengen Grundsätzen, zu Athen (wo die Frauen zum Theil noch laxere Grundsätze hatten als er, und sich auf die Verführungskunst meisterlich verstanden) leicht etwas menschliches begegnen konnte. Hr.  Weiske meint zwar, »wenn Aristipp des gerügten Verbrechens verdächtig gewesen wäre, so hätte Sokrates unklug gehandelt, itzt, da er den jungen Mann gewinnen wollte, dawider zu deklamiren,« und dies ist ihm, wie es scheint, ein neuer Grund, diese Stelle für unächt zu halten. Aber Sokrates könnte ja auch Nachricht gehabt haben, daß irgend eine athenische Kalonike oder Lampito ihr Netz nach ihm stelle, und ihn durch diesen gelegenheitlichen Ausfall nur habe warnen wollen. Auch muß ich gestehen, daß ich in der Rede, die dem S. hier in den Mund gelegt wird, zwar einen, der Sache angemessenen und bis zum Eifer gehenden Ernst, aber keine Deklamazion sehen kann, und im Gegentheil nicht wohl begreife, wie er, um einen seine Person und sein Vergnügen liebenden Jüngling abzuschrecken, weniger hätte thun, oder die Strenge seiner ohnehin nicht auf das Kantische Sittengesetz sich stützenden Moral gefälliger hätte mildern können, als indem er ihm eine PARABILEM VENEREM FACILEMQUE wenigstens CONNIVENDO zu erlauben scheint.

Mein zweyter Ausweg ist: anzunehmen, daß die angefochtene Stelle zwar nicht von Sokrates, aber doch von Xenofon herrühre, und dabey vorauszusetzen, daß seine aus Verschiedenheit der Denkart, Sitten und Lebensweise leicht erklärte, und mit Verachtung vermischte Abneigungen gegen den Filosofen für die Welt,

QUEM OMNIS DECUIT COLOR ET STATUS ET RES, sich in die Darstellung eines ehmals wirklich zwischen ihm und ihrem gemeinschaftlichen ehrwürdigen Freund vorgefallenen Gesprächs gemischt habe. Der Unterschied zwischen Xenofon, der beynahe in allen Lagen und Verhältnissen des öffentlichen und Privatlebens das Sokratische Ideal eines καλου και αγαθου praktisch darstellte, und Aristipp, der sich eine eigene, nur für ihn selbst und wenige, QUOS AEQUUS AMAVIT JUPITER, passende Filosofie der Grazien gemacht hatte, war zu groß, als daß der erste (der überdieß um zwanzig Jahre wenigstens älter war) den andern in einem freundlichem Lichte hätte sehen, geschweige gar mit Schonung hätte behandeln können, wenn sich ihm eine so gute Gelegenheit, wie hier, anbot, die Denkart und Lebensweise Aristipps mit der Sokratischen in einen recht auffallenden Kontrast zu setzen. - In der Uebersetzung der letzten Worte ουκ ηδη τουτο πανταπασι κακοδαιμονωντος εστιν; habe ich den ganzen Nachdruck des Hauptworts auszudrücken gesucht, und hierin den eleganten französischen Uebersetzer der Memorabilien, Levesque, zum Vorgänger gehabt - L'ON DIROIT QU'ILS Y SONT POUSSÉS PAR UN MAUVAIS GENIE.

Aristippos. So dünkt michs.